Von weißen Gipfeln zum Schwarzen Meer

by Benni

Die Türkei ist geografisch betrachtet ein einziges, riesiges Hochplateau. Man könnte das Land als schiefe Ebene beschreiben, die von West nach Ost immer mehr ansteigt und im über 5000 Meter hohen Ararat ganz im Osten des Landes ihren höchsten Punkt findet. Doch nicht nur die Höhe nimmt zu, je weiter man gen Osten fährt sinkt auch die Einwohnerdichte. Hinter der Großstadt Kayseri erwarten mich lange Straßen, die stundenlang über die einsame, anatolische Hochebene führen.

Einsame Stunden auf ödem Plateau

In Kayseri habe ich erneut einen Gastgeber über Couchsurfing gefunden. Ihn und die Stadt lasse ich früh am Morgen hinter mir und folge der Straße in Richtung Schwarzes Meer. Die Straße ist sehr gut ausgebaut, in beide Richtungen gibt es zwei Spuren plus einen großen Seitenstreifen, obwohl die Straße nicht stark befahren ist. Das ist natürlich sehr luxuriös für einen Radreisenden wie mich. Auf Dauer wird dieser Luxus allerdings zur Herausforderung: Stundenlang folge ich der geradlinigen Straße über die Hochebene. Äußere Abwechslung bieten lediglich die schneebedeckten Berge, die sich seitlich der Ebene erheben und die Dörfer und Kleinstädte, durch die die Straße ab und zu führt.

Die äußere Einöde bringt mich dazu, innerlich nach Vielfalt zu suchen, mich gedanklich also mit dem ein oder anderen zu beschäftigen. Zum Beispiel kann ich nochmals meinen Text über die Einsamkeit überdenken, zu dem ich viele Rückmeldungen erhalten habe. Es haben sich besonders viele kritisch geäußert, und während ich so alleine auf meinem Rad strample und die anatolische Hochebene an mir vorbeizieht, muss ich den Kritikern Recht geben: Ich habe die Einsamkeit selbst gewählt und kann sie jederzeit beenden. Ich sollte sie als Tatsache annehmen und etwas Positives daraus machen.

Mit dieser Schlussfolgerung fährt es sich deutlich einfacher. Ich verbringe die Stunden mit dem Nachdenken über und Beten für verschiedenste Menschen und freue mich immer mehr auf ein Wiedersehen mit ihnen. Außerdem höre ich mir viele Folgen von Eine Stunde History an, eine Radiosendung vom Deutschlandfunk, die ich kürzlich entdeckt habe. Einfach super, wie da auf ansprechende und anspruchsvolle Weise Geschichte vermittelt wird – der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist noch nicht ganz verloren!

Derartig gut und niveauvoll beschäftigt erreiche ich die nächste Provinz-Metropole Sivas dann fast etwas überrascht, plötzlich bin ich wieder von hupenden Autos und vielen Menschen umgeben. Zusätzlich übernachte ich in der Wohngemeinschaft von dem Couchsurfer Ramazan, in der – wie immer in einem türkischen Haushalt – viel Leben ist. Zusammen mit einigen Mitbewohnern und Freunden ziehen wir am Abend durch die Innenstadt, stolz zeigen sie mir die Attraktionen von Sivas.

Unangenehme Polizeikontrolle

Bisher hatte ich nur positive Worte für die Türkei übrig und ich hoffe auch, dass diese Beschreibung überwiegt: Ich liebe dieses Land und besonders die Freundlichkeit seiner Bewohner. Doch natürlich ist auch die türkische Welt alles andere als eine ideale, jetzt, wo ich das Land verlassen habe, fühle ich mich etwas freier, auch über die Schattenseiten zu schreiben.

Ein gutes Beispiel hiefür bietet eine Polizeikontrolle, in die ich kurz hinter Sivas gerate. Alles beginnt wie immer, die etwa fünfzehn Polizisten und Soldaten versammeln sich interessiert um mein Fahrrad und fragen mich begeistert zu meiner Reise. Vielleicht ist es ein Fehler, dass ich dieses Mal die Einladung zum Tee ablehne, in jedem Fall werde ich vor ein Gebäude am Straßenrand gebeten. Dort beginnt der eine Polizist mit kritischem Auge durch meinen Reisepass zu blättern, ein anderer inspiziert mein Gepäck, ein dritter schaut sich die Bilder auf meiner Kamera an. Der offensichtliche Chef der Gruppe stellt mir mit gebrochenem Englisch allerhand Fragen zu meiner Reise, meiner Route und besonders zu der Kurdenpartei PKK – der „Terrorgruppe“, wie er sie nennt. Als er ihren Namen nennt, schaut er mir besonders tief in die Augen. Sie seien hier sehr verbreitet, ob ich denn keine Angst hätte, fragt er mich. Nein, antworte ich knapp aber deutlich.

Nach etwa einer halben Stunde untersucht ein fünfter Polizist meinen Körper nach Waffen. Nachdem er nichts findet, strahlt er mich an und sagt: „You are a safe person, goodbye“ („Du bist eine sichere Person, tschüss“) und lässt mich ziehen.

Ein Imam, der nicht ganz meinen Vorstellungen entspricht

Die folgende Nacht wird ebenfalls keine angenehme. Wie schon vor einigen Tagen steuere ich in einem kleinen Dorf die Moschee an in der Hoffnung, dass ich die regnerische Nacht in ihr verbringen kann. Der zuständige Imam erklärt mir, dass in dieser Moschee das Übernachten nicht erlaubt sei. Bei einem Blick in die Moschee verstehe ich auch, warum: Sie ist sehr reich dekoriert und teuer ausgebaut. Generell sind die Moscheen in diesem Teil des Landes sehr groß und modern, zusätzlich komme ich mehrmals an riesigen Moscheen vorbei, die gerade erst gebaut werden. Es scheint ein besonders religiöser Teil der Türkei zu sein.

Der Imam verweist mich auf das nächste Dorf, gerade habe er mit dem dortigen Imam telefoniert, ich könne bei ihm zu Hause übernachten. Super, denke ich mir, beim letzten Mal hatte ich einen guten Abend mit interessanten Gespräche, als ich bei einem Imam zu Gast war.

Im nächsten Dorf werde ich herzlich begrüßt und hineingebeten. Der Imam ist genauso alt wie ich. Ganz selbstverständlich bietet er mir die Dusche und zu Essen an. Als wir uns dann aber ausführlicher zu unterhalten beginnen, merke ich, dass er so ganz anders denkt und spricht, als ich es von einem muslimischen Führer erwartet hätte: Im Laufe des Gespräches flucht er immer mehr, interessanterweise sind es gerade diese Worte, die er auf Englisch beherrscht. Seine Gedanken scheinen hauptsächlich um Frauen zu kreisen, er fragt mich, ob ich ihm nicht eine schöne, deutsche Frau vermitteln könnte. Als er dann bei einem Blick auf mein Instagram-Profil entdeckt, dass ich in Israel war, wird er richtig wütend. Er gibt in Google Translator den Satz „ich hasse Israel ein“ und hofft, damit Zustimmung bei mir zu finden.

Mittlerweile ist es Mitternacht, als Freunde des Imams erscheinen. Sie freuen sich offensichtlich auf ein paar gesellige Stunden mit ihm und seinem Gast. Ich kann jedoch kaum noch meine Augen offen halten, erkläre ihnen, dass ich jetzt ein wenig schlafen müsse und ziehe mich in ein anderes Zimmer zurück. Ich kann jedoch lange nicht schlafen, weil sich die Freunde stundelang lautstark unterhalten und singen. So bete ich für den Imam und seine Freunde. Ich hoffe, dass sich in diesem Haus Unfriede und Hass in Freude und Friede verwandelt.

Am nächsten Morgen bin ich bereits um fünf Uhr wach. Der Imam schläft fest und hört auch seinen Wecker für den ersten Gebtsaufruf nicht. So bleibt es an diesem Morgen ruhig in dem kleinen Dorf, kein Gebetsaufruf schallt vom Minarett. Ich packe meine Sachen und sitze bereits um sechs Uhr auf meinem Fahrrad.

Über hohe Passstraßen und weiße Berge

Selten habe ich mich so gefreut, auf meinem Fahrrad zu sitzen. Was für ein Gefühl der Freiheit nach dieser unangenehmen Nacht! Nach der langen, flachen Hochebene bin ich im Gebirge angelangt, es stehen drei über 2000 Meter hohe Pässe vor mir. Die können mich in meiner jetzigen Stimmung jedoch nicht ängstigen, ich freue mich regelrecht darauf, für einige Stunden nur mit mir selbst und dem regelmäßigen Strampeln beschäftigt zu sein.

Ab einer Höhe von etwa 1600 Metern bin ich von Schnee umringt, die Straße ist zwar frei, die Gipfel um mich herum sind allerdings von Schnee bedeckt. Ich hätte nicht erwartet, Mitte April in der Türkei noch so viel Schnee zu sehen. Ab und zu werde ich von Autos und LKWs überholt. Einige von ihnen weisen mir bestimmt auf ihre Ladefläche, ich solle mein Fahrrad darauf werfen, sie würden mich gerne den Pass hinauffahren. Da kämpft man sich schon steile Pässe hoch und muss zusätzlich noch mit der Versuchung kämpfen, von einem LKW mitgenommen zu werden. Doch ich bleiben standhaft und lehne jede Einladung ab. Die Reaktion der Fahrer ist immer die gleiche: Sie blicken mich an, als käme ich von einem anderen Stern. Wie kann man nur freiwillig mit dem Fahrrad solche Pässe hochfahren?

Am Abend erreiche ich ein wunderschönes Tal, das stark bebaut ist. Ich finde einfach keinen Zeltplatz und bin gezwungen, bei einem Haus zu fragen, ob ich im anliegenden Garten zelten dürfte. Wohlweißlich tippe ich in Google Translator ein, dass ich einen ruhigen Ort suche, nach der letzten Nacht möchte ich es vermeiden, erneut von vielen Leuten umgeben zu sein. Der Hausbesitzer versteht sofort und weist mir freundlich ein Rasenstück neben seinem Haus. Doch so ganz kann er es sich nicht nehmen lassen, ein guter Gastgeber zu sein: Kurz, nachdem ich mein Zelt aufgeschlagen habe, erscheint er mit einem Tablett voll von Essen. Falls es noch nicht klar genug geworden ist: Ich liebe dieses Land und seine gastfreundlichen Menschen!

Eine Kirche in Trabzon

Nach den vielen Tagen auf der Hochebene und in den Bergen geht es steil bergab, von dem letzten Pass und 2000 Metern Höhe sause ich 50 Kilometer auf Meereshöhe und in die Stadt Trabzon hinab. Endlich bin ich hier! Christen, die ich im November im Westen des Landes kennengelernen konnte, haben mir gesagt, es gäbe da eine katholische Kirche, neben der ich übernachten könnte. So fahre ich gezielt die aus dem 19. Jahrhundert stammende und von Kapuziner-Mönchen gegründete Kirche Santa Maria an, die sich gut zwischen großen, modernen Häusern versteckt. Hinter dem Eingangstor führt eine Treppe hinab zum Kirchengebäude. Ich trage mein Fahrrad die Treppen hinab, stelle es neben das Eingangsportal der Kirche und hoffe, irgendjemanden ansprechen und nach einer Übernachtungsmöglichkeit fragen zu können.

Sofort bin ich von drei Männern und einer Frau umzingelt. Einer hält ein großes Funkgerät in der Hand und macht damit aufgeregt einige Durchsagen. Einer der anderen fragt mich, was ich hier wolle. Ich erzähle ihnen von meinen Freunden aus der Westtürkei, zeige ihnen auf meinem Handy ihre Nummer und die Adresse, die sie mir gegeben haben. Sie schauen mich nur skeptisch an. Endlich, nachdem sie mich schon an das benachbarte Hotel verweisen wollen, kann ich sie davon überzeugen, den Priester der Kirche zu rufen. Doch auch der Priester Maximilano will nichts von einer Übernachtungsmöglichkeit wissen, das Gästehaus werde gerade renoviert, ich müsse mich mit dem Ort vertan haben. Doch ich gebe nicht locker, erkläre, dass ich nur einen einfachen Platz zum Übernachten suche. Da gibt der Priester endlich nach und bittet mich in das Nebengebäude herein.

Dort werde ich herzlich empfangen. Ein Südtiroler, der seit Jahren in der Türkei wohnt und mit den Renovierungsarbeiten betraut ist, freut sich, einen deutschsprachigen Gast aufnehmen zu dürfen. Sofort führt er mich in ein großes Zimmer mit eigenem Bad. Nachdem ich dusche, werde ich zum Abendessen eingeladen, und zwar zu bester italienischer Pasta, Käse und weiteren aus Italien importierten Produkten.

Mit der Zeit und in den Gesprächen finde ich heraus, warum ich zunächst so abweisend empfangen wurde: Bei den vier Personen, die mich umzingelten, handelt es sich um Polizisten, die die Kirche rund um die Uhr bewachen. Im Jahr 2006 wurde hier der damalige Priester Andrea Santoro erschossen. In den Jahren danach gab es immer wieder Bedrohungen und Angriffe, unter anderem flogen Molotowcocktails und eine nicht zündende Bombe auf das Gelände. So ist es verständlich, dass jeder unbekannte Besucher mit besonders skeptischen Blicken betrachtet wird. Ich habe all den Polizisten und dem Priester wohl einen rechten Schock eingejagt, als ich ganz unbedarft mein Fahrrad in Richtung Kirche getragen habe.

Die nächsten drei Tage verbringe ich in Trabzon und der Kirche. In vielen Gesprächen höre ich von der Situation der Christen: Die Kirche Santa Maria ist die einzige christlichen Kirche im Umkreis von vielen hundert Kilometern. Es gibt hier im Nordosten des Landes nur äußert wenige Christen, viele von ihnen trauen sich nicht, eine Kirche zu besuchen. Der Druck von außen ist immens und scheint zuzunehmen.

Am Sonntag nehme ich an der Messe teil. Die Kirche ist voll, gut vierzig Personen, die meisten von ihnen Studenten aus Afrika, feiern zusammen Gottesdienst. Doch es ist eine ganz besondere Stimmung, die über dieser Messe liegt. Ich selber ertappe mich dabei, wie ich immer mal wieder zum Eingang blicke und mich frage, was ich wohl tun würde, wenn da jemand mit einer Waffe hereinkommen würde. Und dann muss ich an die vielen Gottesdienste in Deutschland und der Schweiz denken, während derer mir nie solche Gedanken gekommen wären.

Am Schwarzen Meer entlang nach Georgien

Nach den drei Tagen in Trabzon nehme ich dankbar, aber auch schweren Herzens Abschied. Während ich ins für Christen sichere Georgien reise, werden meine Gastgeber weiterhin rund um die Uhr von der Polizei bewacht werden.

Ich folge der Küste am Schwarzen Meer, an der es im Vergleich zu den Bergen schnell voran geht. Besonders der Regen, der pünktlich mit meiner Abfahrt zurückkehrt, treibt mich vorwärts. Und auch die Landschaft verleitet mich nicht sonderlich zum Innehalten: Wie auch schon an der Mittelmeerküste ist hier fast jeder Küstenabschnitt mit hohen Wohnhäusern bebaut, allerdings gibt es hier nicht einmal Strände, sondern nur Felsen und Steine.

Als ich dann doch einen kurzen Strandabschnitt entdecke, wird mir klar, woher das Schwarze Meer seinen Namen hat: Die Steine und der Sand sind hier schwarz. Oder ist daran nur der Regen Schuld?

Meine letzte Nacht verbringe ich auf Grund des Regens wieder in einer Moschee. Der zuständige Aufseher der Moschee könnte mal wieder freundlicher nicht sein, am Abend und am nächsten Morgen schaut er im Stundentakt bei mir vorbei, um mir irgendetwas zu bringen.

Mit dieser letzten guten Erfahrung verlasse ich die Türkei, die ich nun insgesamt einen Monat mit dem Fahrrad durchreist habe. Als Resümee bleiben viele gute Erinnerungen an Begegnungen und Gastfreundschaft. Doch über all dem legt sich wie ein Schatten die Unterdrückung von Minderheiten und die schwierige Lage der Christen.

Meine liebe Türkei, meine lieben Bewohner dieses Landes, ich werde Euch vermissen! Ich hoffe und bete, dass die Situation so vieler Unterdrückter sich gebessert hat, sollte ich Euer Land einmal wieder betreten.

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1 Kommentar

Eine neue Velospektive im kleinen Kaukasus - Velospektive August 6, 2020 - 18:38

[…] die Christen in Trabzon vermittelt, die mich schon so herzlich bei sich aufgenommen hatten (wie man hier nachlesen kann). Ich verbringe also zwei Tage zusammen mit fünf Männern und einer Betreuerin, zu […]

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