Westwall-Divide Teil 1

by Benni

Wir schieben unsere Fahrräder über einen kaum erkennbaren Waldpfad. Große Wurzeln und umgefallene Bäume machen das Fahren hier unmöglich. Doch mein GPS-Gerät sagt mir, dass dort hinten, irgendwo im Unterholz, ein alter Bunker sein soll. Also kämpfen wir uns weiter. Und tatsächlich, auf einmal stehen wir vor dicken Betonwände, die sich etwa einen Meter aus der Erde erheben. Wir steigen hinab zu einem Relikt aus dem zweiten Weltkrieg, erkunden und inspizieren es, bevor wir uns wieder auf die Räder schwingen und weiterziehen.

Eine solche Bunkererkundung abseits des Weges wird sich heute noch einige Male wiederholen. Zusammen mit Stefan, einem Freund aus Aachen, bin ich auf dem Westwall-Divide unterwegs. Für zwei Tage testen wir diese Route, die mein mittlerweile guter Freund Holger Loosen – Mr. Eifel Graveller, neu entworfen hat. Auf Feld-, Wald- und Wiesenwegen soll der Track die Überbleibsel des Westwalls von Aachen bis hinab nach Basel verbinden.

Die Route ist ganz neu, Stefan und ich sind die ersten, die auf ihr unterwegs sind und ihre Fahrbarkeit prüfen. Unser Ziel: Innerhalb von zwei Tagen von Aachen bis nach Trier radeln. Dort würde Stefan von Frau und Kindern abgeholt werden, während ich am nächsten Tag die Reise mit Guido Dreesen, dem Ersten vom Eifel Graveller, und Holger selber fortsetzen werde.

Bunkererkundung mit Stefan

Solide Panzersperren hinter Aachen

Wir starten in Aachen. Der Westwall beginnt eigentlich noch etwas weiter nördlich, in Kleve, aber Holger hat den Start nach Aachen gelegt. Das macht besonders Sinn, weil um Aachen und in der nahegelegenen Eifel noch viele gut erhaltene Relikte der Verteidigungslinie erhalten sind.

Den ersten begegnet man direkt am Rande von Aachen – und man muss in diesem Fall auch gar nicht mit dem Rad irgendwelche kleinen Wege überwinden, um zu ihnen zu gelangen: Direkt am Rand einer großen Hauptstraße erblicken wir große Panzersperren.

Diese tief in die Erde versenkten Betonzacken findet man auf der ganzen Linie des gut 600 Kilometer langen Westwalls. Sie sollten das Vorrücken von feindlichen Panzern und schwerem Kriegsgerät stoppen oder zumindest verzögern. Noch heute sind sie unverrückbar fest im Boden verankert. Vermutlich wird man sie auch noch viele Jahrzehnte später hier besichtigen können.

Auf dünnen Reifen zu den ersten Bunkern

Stefan und ich fahren weiter und erreichen die ersten Hügel und Wälder der Eifel. Stefan ist mit dem Trekkingrad seiner Frau unterwegs – mit seinen recht dünnen Reifen kein ideales Fahrrad für die steilen Anstiege und engen, steinigen Pfade, die der Track zu bieten hat. Aber Stefan schlägt sich beeindruckend gut, wir kommen zügig voran.

Stefan kämpft sich mit dem Trekkingrad voran

In den Wäldern der Eifel stoßen wir auf die ersten Bunkerüberreste. Diese liegen hier jedoch nur selten direkt neben dem Weg, meist müssen wir ein kleines Stück in den Wald hineinfahren. Doch auch das gelingt Stefan auf den dünnen Reifen gut.

Viele der Bunker, die wir erblicken, sind zerstört, vermutlich zerbombt. Oder doch gesprengt? Während wir so vor diesen Betonklötzen stehen und darüber nachdenken, fällt mir auf, dass ich so gut wie kein historisches Wissen über diesen Westwall besitze. Vor einigen Wochen, als Holger die Informationen zu diesem neuen Projekt auf seine Homepage gestellt hat (siehe hier), habe ich ihn sogar korrigiert:

„Eine Verteidigungslinie aus dem zweiten Weltkrieg?
Kann gar nicht sein! Die muss aus dem ersten Weltkrieg stammen.“

Ich wusste von den jahrelangen Grabenkämpfen an der deutsch-französischen Grenze im ersten Weltkrieg. Aber im zweiten? Ich hatte gedacht, dass die Alliierten nach der Invasion in der Normandie ziemlich direkt nach Westdeutschland durchmarschiert wären.

Zusammen mit Stefan treffe ich aber nicht nur auf ganz viele zerstörte Bunker, sondern auch auf Gedenktafeln am Wegesrand. Sie erinnern an deutsche und amerikanische Soldaten, die hier gefallen sind und deren sterbliche Überreste teilweise erst vor wenigen Jahren gefunden wurden. Zunehmend wird mir bewusst, dass in diesen Wäldern rund um Aachen viele tausend Menschen gestorben sein müssen – also kein einfacher Durchmarsch am Ende des Krieges.

Eine Gedenktafel für einen amerikanischen Soldaten

Wo das Auge hinschaut Kriegsspuren

Gegen Mittag erreichen wir den Rursee. Gute Erinnerungen: Vor knapp einem Jahr bin ich hier während des Eifel Gravellers vorbeigekommen. Es waren noch 250 Kilometer bis zum Ziel. Am Wegesrand habe ich Norbert getroffen, der mich nicht nur angefeuert und mit Essen versorgt, sondern auch auf die Idee gebracht hat, Guido zu jagen und um den ersten Platz mitzukämpfen (wie es weiter ging, steht hier).

Norbert vermietet am Ufer des Sees einige Ferienbungalows. Stefan und ich steuern diese an und schauen, ob wir spontan auf Norbert treffen. Er ist leider nicht da. Dafür halten wir beim Dönermann nebenan, sorgen für Energienachschub und rollen anschließend am Ufer des Sees weiter.

Hier gibt es wirklich einiges zu sehen: Schöne Natur, ein Stauwerk, uriges Fachwerk… aber gedanklich bin ich nur bei Relikten aus dem zweiten Weltkrieg. Das ist schon ein interessantes Phänomen: Wir folgen einer thematischen Route, was dazu führt, dass auch unsere Sinne und Gedanken ganz auf dieses Thema eingestellt sind. Mir fällt auf, dass ich manchmal sogar einen Felsvorsprung im ersten Augenblick für einen alten Bunker halte.

Diese Sensibilität sorgt allerdings nicht nur zu derartigen Verwechslungen, sondern hilft auch, Kriegsüberreste wahrzunehmen, an denen ich sonst einfach vorbeigerauscht wäre. Am Ufer des Sees etwa entdecken wir einen Bunker, den wir auf Grund des niedrigen Wasserstandes sogar begehen und erkunden können.

Mir gefällt diese gezielte Achtsamkeit. Es ließe sich mit ganz verschiedenen Themen verwirklichen. Wären Stefan und ich beispielsweise auf eine Vogelbeobachtungs-Bikepackingtour gegangen, wir würden am laufenden Band Vögel entdecken und fotografieren. Themen-Bikepacking – sollte man öfters machen!

Keine Glorifizierung

Während ich über das neu entdeckte Themen-Bikepacking nachdenke, wird mir bewusst, dass die Intention dieses Westwall-Divides missverstanden werden könnte: Holger möchte mit dieser Route keinesfalls die Kriegsschlachten und -geschehnisse glorifizieren. Vielmehr soll sie über Geschichte informieren – ja, Geschichte im wahrsten Sinne des Wortes erfahrbar machen und damit ein Mahnweg sein.

Wie gut, dass solche Orte wie die NS-Ordensburg Vogelsang auf der Route liegen, die über dem Rursee liegt und die Stefan und ich nach Bezwingung einer steilen Rampe erreichen. Dieser riesige Gebäudekomplexes wurde von der NSDAP genutzt, um den Parteinachwuchs auszubilden. Wer hier seine Augen aufmacht, der kann gar nicht anders, als eine Glorifizierung des Nationalsozialismus abzulehnen.

Stefan und ich nehmen uns zwar nicht die Zeit, die Dauerausstellung zu besuchen, aber auch das Befahren der Anlage lehrt einiges. Mich beeindruckt besonders die Statue eines Fackelträgers, die gut erhalten ist und am Rande des Geländes steht.

Fackelträgerstatue bei der NS-Ordensburg Vogelsang

Neben der Statue steht in Stein gemeißelt:

„Ihr seid die Fackelträger der Nation.
Ihr tragt das Licht des Geistes voran im Kampfe für Adolf Hitler.“

An dieser kurzen Parole wird die ganze Verirrung der nationalsozialistischen Ideologie deutlich. Es gibt nur eine Person auf dieser Welt, die berechtigterweise von sich selber behaupten konnte und kann, das Licht der Welt zu sein, und deshalb auch zu anderen sagt:

„Ihr seid das Licht der Welt.“

Matthäusevangelium 5,14

Auf dem Truppenübungsplatz

Hinter Vogelsang erreichen Stefan und ich schon bald Wollseifen. Dieser kleine Ort auf der Dreiborner Hochebene wurde nach dem zweiten Weltkrieg geräumt, da das Gelände den Briten und später den Belgiern als Truppenübungsplatz diente. Seit 2006 ist es wieder zugänglich.

Stefan und ich rollen an den noch verbliebenen Gebäuden des Dorfes vorbei, an einem Trafohäuschen, einem Schulgebäude und der erst kürzlich sanierten Kirche St. Rochus. Anschließend führt uns der Track direkt durch einen kleinen Kulissenhäuser-Komplex, der dem Militär zur Übung von Häuserkämpfen diente. Was für eine skurrile Kulisse! Aber wie schön auch, dass wir uns heute so frei mit unseren Rädern hier bewegen können!

Radfahren zwischen ehemaligen Truppenübungs-Attrappen

Als wir über die Hochebene rollen, sehen wir auf ihr nicht nur riesige, allesamt zerstörte Bunkeranlagen, sondern auch, dass in der Ferne ein Gewitter aufzieht. Umso schneller rauschen wir weiter gen Süden. Die Regenfront zieht glücklicherweise gen Norden, wir bleiben verschont.

Die Hochebene gewährt uns den Blick auf das herannahende Unwetter

Routenentwicklung – keine einfache Aufgabe

In den nächsten Stunden folgen wir wunderschönen Waldwegen und Wanderpfaden. Hier hat Holger wirklich gute Vorarbeit geleistet, man merkt, dass er die Eifel wie seine Westentasche kennt.

An anderen Stellen bedarf der Track allerdings noch Überarbeitung. Manchmal werden wir nämlich auf Wege geleitet, die unmöglich zu befahren sind. Ab und an hat Holger außerdem große Schleifen eingebaut, die nicht nur einige Kilometer Umweg bedeuten, sondern auch einige zusätzlich Höhenmeter mit sich bringen und uns doch nur zu weiteren Bunkern führen, von denen wir heute nun wirklich schon viele gesehen haben.

Mir wird dadurch bewusst, dass die Entwicklung solch einer Route alles andere als eine einfach Aufgabe ist. Zwar lässt sich eine grobe Route mit Hilfe von Software wie Komoot heute schnell zeichnen; es ist allerdings der Feinschliff, der viel Zeit und Scoutingtouren bedarf.

Trotzdem genießen Stefan und ich diese erste Testtour. Wir hatten sowieso nie vor, dem gesamten Track von Aachen bis Trier zu folgen – dafür wären zwei Tage viel zu kurz. Stattdessen folgen wir nur heute der Route, nehmen jede Schleife gerne in Kauf und wollen morgen auf leichteren Wegen bis nach Trier rollen.

Ob schöne Trails oder Schleifen und Umwege – wir nehmen alles gerne mit

Bikepacking als Bildungsreise

Diese entspannte Grundhaltung erlaubt es uns ebenfalls, an einer Stelle nahe des Dorfes Hollerath, an der es erneut viele Panzersperren gibt, länger zu halten und zusätzlich die vielen Informationstafeln zu lesen. Wir erfahren dadurch unter anderem, dass die jüngsten Sperren kurz vor Kriegsende und mit Hilfe von Hitler-Jungen gebaut wurden. Außerdem wurden zeitweise bis zu 20% der jährlichen Erzeugung von Eisen und Zement des deutschen Reiches für die Errichtung des Westwalles benötigt!

Wir nehmen uns Zeit für Erkundungen

Neben diesen Details lerne ich im Laufe des Tages aber auch ganz allgemein, was sich vor 75 Jahren an diesen Orten, die Stefan und ich da gerade erkunden, abgespielt hat. Ende 1944 und Anfang 1945 gab es riesige und wochenlang andauernde Schlachten. Besonders im Anschluss an die letzte deutsche Offensive gen Westen (der Ardennenoffensive) kam es vielerorts zu erbitterten Kämpfen um die Bunkeranlagen, bei denen tausende Soldaten auf beiden Seiten ihr Leben verloren.

Mit diesem Wissen fahren wir noch etwas bedachter an den vielen Kriegsüberresten vorbei. Ich bin zudem dankbar, innerhalb eines Tages soviel über diese Verteidigungslinie und die damit verbundene Geschichte gelernt zu haben.

Diese Route ist wahrlich ein Bildungsprojekt! Ich finde Holgers Idee super, dass viele Menschen ihr folgen und sich auf diese so interaktive Weise über die Geschehnisse am Ende des Krieges informieren können.

Hüttenübernachtung

Am Abend haben wir ausnahmsweise mal nicht den Westwall im Blick, sondern suchen nach einem schönen Ort zum Übernachten. In Udenbreth treffen wir auf einen gesprächigen Exil-Österreicher, der uns nicht nur Wasser gibt, sondern zusätzlich gleich drei nahegelegene Wanderhütten zum Übernachten empfiehlt. Wir steuern die vielversprechendste an, finden sie nach einigen Umwegen und sind nicht enttäuscht: In einer schönen Hütte an einem Weiher rollen wir die Isomatten aus und verbringen die Nacht.

Unsere Hütte für die Nacht

Diese verläuft für Stefan allerdings ungemütlich. Er wacht mit Kopfschmerzen auf, hat wohl falsch gelegen. Trotzdem kämpfen wir uns am nächsten Morgen bis zum Schwarzen Mann hinauf, dem höchsten Berg der Westeifel und mit der Holzfigur – die übrigens auf einem Westwall-Bunker steht – ein bekannter Ort in der Region.

Der Schwarze Mann – höchter Punkt der Westeifel

Entspanntes Rollen nach Trier

Im nächsten Ort muss Stefan die Fahrt dann aber beenden. Seine Kopfschmerzen nehmen nicht ab, werden eher schlimmer. Wir verabschieden uns, er lässt sich von seiner Frau abholen. Die gemeinsame Fahrt hat mir großen Spaß gemacht, wir hatten gute Gespräche auf dem Rad und konnten die Entdeckungen des Westwalls gemeinsam verarbeiten.

mit Stefan unterwegs

Ich rolle entspannt auf Radwegen weiter bis nach Trier. Morgen werde ich mich dort mit Holger und Guido treffen. Gemeinsam wollen wir zwei weitere Tage den Westwall gen Süden erkunden. Dazu also bald mehr, eine Fortsetzung folgt.

Auch auf der letzten Etappe gab’s einige Westwall-Überbleibsel zu sehen

Die gesamte Strecke des Westwall-Divides:

Vollbildanzeige

Herunterladen kann man die Strecke auf Holgers Eifel-Graveller-Seite, auf der er auf Komoot verlinkt:

Weitere Fotos zu unserer Fahrt gibt es hier.

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2 Kommentare

Björn Juli 3, 2020 - 07:38

Moin,
Vielen Dank für den interessanten Bericht von eurer Erkundungs- und Erprobungstour. Auch die Bilder sind toll.
VG aus Bremerhaven,
Björn

Antwort
Benni Juli 3, 2020 - 09:07

Moin Björn,
vielen Dank.
Grüße in den Norden!

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