Ich habe noch nie mehr als 300 Kilometer an einem Tag mit dem Fahrrad zurückgelegt. Den Orbit in Bremen nehme ich dafür gerne als Anlass. Hier folgt mein Bericht zur Fahrt – und eine kleine, ganz subjektive Anleitung, wie man eine solch große Strecke meistert.
0 km: Lamentiere nicht, sondern gehe guten Mutes an den Start
Eigentlich mag ich das norddeutsche Flachland nicht so. Da ist es immer so windig. „Unsere Berge sind der Wind“, sagt man hier gerne. Außerdem trifft man abseits der geteerten Straßen auf ganz viel Sand. Zusätzlich bietet diese flache Ebene viel weniger Abwechslung, als ein deutsche Mittelgebirge. Hätte ich freie Wahl, dann hätte ich bestimmt nicht diesen langen und flachen Orbit in Bremen gewählt.
Hätte, hätte, Fahrradkette – ich bin gerade an der Nordsee, wo Familienangehörige Urlaub machen. Der Bremen-Orbit liegt direkt nebenan. Also fahr ich ihn halt.
Eigentlich ist aber auch mein Fahrrad – ein Cube-MTB mit 2,1 Zoll breiten Reifen – alles andere als ideal für diesen Rundkurs. Vermutlich werde ich kein einziges mal das größte Kettenblatt mit 50 Zähnen brauchen, mir dafür aber andauernd eine noch schnellere Übersetzung herbeiwünschen.
Doch auch hier gilt: Fahr mit dem was du hast. Akzeptiere die Umstände, die du nicht ändern kannst, und sehe das Positive in ihnen: Das Bundesland Bremen kenne ich noch fast gar nicht, bestimmt gibt‘s auch auf dieser Route einiges Schönes zu entdecken. An mein Rad bin ich gut gewöhnt, es ist zwar nicht das schnellste, aber es wird mir während der langen Zeit im Sattel viel Komfort bieten.
16km: Iss den Elefanten
Ich starte um 5.30 Uhr südöstlich des Jadebusens und etwa 55 Kilometer von Bremerhaven und der Weserfähre entfernt. Mein Plan sieht also vor, morgens durch Bremerhaven zu rollen, am frühen Nachmittag in Bremen zu sein und abends wieder am Startpunkt anzukommen. Wenn alles gut geht, sollte ich vor Sonnenuntergang die Runde geschafft haben.
Nach 16 Kilometern erreiche ich bereits das Meer. Die Sonne geht auf, es sind noch keine Menschen unterwegs, gute Stimmung.
Allerdings habe ich erst 16 von 323 km geschafft – 16!
Wie isst man einen Elefanten? Stück für Stück.
Wie fährt man 323 km mit dem Fahrrad? Pedalumdrehung für Pedalumdrehung.
Ich versuche mich nicht auf die geschafften und noch zu fahrenden Kilometer zu konzentrieren. Bis letztes Jahr habe ich mir auf meinem Navigationsgerät immer die gefahrenen Kilometer anzeigen lassen. Das habe ich mittlerweile deaktiviert. Ich muss ganz bewusst einen Knopf drücken, um sie zu sehen. Frühestens zur Mittagszeit werde ich das das erste Mal machen, so nehme ich es mir vor.
Stattdessen konzentriere ich mich auf das Hier und Jetzt. Und ich setze mir kleine Ziele. Das erste Ziel: Bis um 7.45 Uhr an der Weser sein, dann setzt dort nämlich die nächste Fähre nach Bremerhaven über.
55km: Fahre ohne Scheuklappen
Um 7.30 Uhr bin ich bereits an der Anlegestelle. Mit mir wartet ein weiterer Fahrradfahrer. Martin fährt ab und zu mit seinem Akkordeon nach Bremerhaven und macht dort Straßenmusik. Er ist ganz interessiert an meinem Rad. Stück für Stück erzähle ich ihm von dem Orbit. Als ich bei der Zahl 323 ankomme, kommt er aus dem Staunen nicht mehr raus.
„Ich bin ja letztens 30 km mit dem Rad gefahren, danach tat mir dann aber mein Hintern schon ziemlich weh. Wie machst du das auf so einer langen Strecke?“
Tja, wie mache ich das? „Gewöhnung spielt bestimmt die größte Rolle“, antworte ich. „Aber auch Variation in der Sitzpositionen, ein passender Sattel, eine polsternde Hose und eine gute Creme. Zum Schluss kann dann auch Leidensfähigkeit nicht schaden.“
Martin schaut etwas skeptisch. Dann legt die Fähre auch schon an und wir verabschieden uns. Ich stürme weiter, während Martin mit seinem Akkordeon Richtung Fußgängerzone fährt.
Die nette Begegnung beschäftigt mich gedanklich die nächsten Kilometer. Das hilft. Generell versuche ich, viel mit den Menschen am Wegesrand zu kommunizieren, grüße jeden. Ein gewisser Tunnelblick ist zwar nötig, um effizient einem Ziel entgegen zu fahren, ganz blind für die Menschen und die Umgebung sollte man aber trotzdem nicht sein.
100km: Genieße den Asphalt…
Hinter Bremerhaven geht es weiterhin fast nur auf Asphalt und einfach zu fahrenden Schotterstraßen voran. Ich wundere mich: Wenn dieser Orbit die ganze Zeit auf solchen Wegen entlangläuft, ließe er sich sogar mit einem gewöhnlichen Rennrad fahren.
So rolle ich mit breiten Reifen, einer Federgabel und einer alpinen Übersetzung über flachen Asphalt und beginne erneut zu hadern: Warum habe ich bloß kein Gravelbike? Da muss ich mich innerlich schnell bremsen, solche Gedanken ermüden und bremsen nämlich nur zusätzlich. Stattdessen versuche ich mich einfach an den schnellen Passagen zu erfreuen.
110km: …und nimm die Sandpassagen mit Gelassenheit
Aus dieser dankbaren Haltung kann ich die ersten Sandpassagen dann auch mit Gelassenheit nehmen. Zusätzlich freue ich mich, dass endlich meine breiten Reifen ihren Vorteil ausspielen dürfen. Hier in der Bremer Schweiz (die gut 50 Meter hohen Hügelchen werden tatsächlich so genannt!) sind die Sandpassagen zwar nur kurz, es warten aber bestimmt noch einige mehr hinter Bremen. Ich freue mich fast darauf.
150km: Scheue nicht die Konfrontation mit dir selbst…
„Die hundert Kilometer zwischen Bremerhaven und Lilienthal sind besonders langweilig.“ Manchmal lässt man sich als Radfahrer zu solchen Aussagen verleiten. Auch mir liegt soetwas auf der Zunge. Und ich würde am liebsten noch ergänzen, dass der Niedersachsenstein das einzige Highlightchen auf dieser Durststrecke ist.
Doch auch da muss ich meinen Gedanken Einhalt gebieten. Denn was ist schon Langeweile? Und wie kommt es dazu, dass wir uns langweilen, sobald unsere Umgebung keine effektvolle Abwechslung bietet?
Letztendlich werden wir doch durch äußere Eintönigkeit nur umso mehr auf uns selbst zurückgeworfen. Gibt es da denn nichts in uns selbst, sodass wir dauernd nach äußerlichen Unterhaltung lechzen?
An dieser Stelle wage ich es, die komplexen, aber so wertvollen Gedanken von Blaise Pascal einzufügen:
„Das einzige, was uns in unserem Elend tröstet, ist die Zerstreuung, und dabei ist sie die Spitze unseres Elends, denn sie ist es, die uns grundsätzlich hindert, über uns selbst nachzudenken, die uns unmerklich verkommen läßt. Sonst würden wir uns langweilen, und diese Langeweile würde uns antreiben, ein besseres Mittel zu suchen, um sie zu überwinden. Die Zerstreuungen aber vergnügen uns und geleiten uns unmerklich bis zum Tode.“
Blaise Pascal
Für mich ist die Verlockung besonders groß, in solchen Passagen der äußerlichen Einöde die Konfrontation mit mir selbst zu entfliehen und stattdessen zu Kopfhörer zu greifen (wie ich es hier genauer beschrieben habe). Aber ich widerstehe der Versuchung zur Zerstreuung, erst ab 12 Uhr gestehe ich es mir zu, mich durch meine Bluetooth-Kopfhörer in fremde Welten versetzen und mit fremden Gedanken konfrontieren zu lassen.
Stattdessen bete ich viel, drehe jegliche Gedanken dreimal um, lasse den Gedanken gar freien Lauf. Dieses Bremer Tiefland eignet sich dafür besonders gut.
160km: …und greife erst danach zu den Kopfhörern
40 Kilometer vor der Hansestadt geht es erneut auf glattem Asphalt an der Wümme und durch die Wümmeniederungen und Wümmewiesen voran.
Erst jetzt greife ich zu den Kopfhörern. Diesmal steht „Die Lange Nacht über Atoine de Saint-Exupéry“ auf dem Programm, eine über drei Stunden lange Podcastfolge des Deutschlandfunks, die auf Werk und Leben des französischen Autors blickt.
Ich liebe es, solch lange Podcasts auf dem Rad zu hören. Wann nimmt man sich sonst Zeit dafür? Musik, die mir den Taktschlag für die Pedalumdrehungen vorgibt, erlaube ich mir erst auf den letzten Kilometern.
200 km: Lass dich nicht von Angeboten rechts und links von dir verführen
Nach 200 km und knapp neun Stunden erreiche ich Bremen. Wenn ich stundenlang durch die Einöde fahre, bin ich immer wieder neu überwältigt von dem Überangebot, das eine Stadt so bereit hält. An jeder Ecke gibt es Supermärkte, Bäckereien, Dönerbuden und Pizzerien. Ich bin versucht, an jedem zweiten Geschäft Halt zu machen – nicht, weil ich das Essen wirklich nötig hätte, sondern weil es so eine schöne Ausrede bietet, um den müden Beinen nach 200 km eine Pause zu gönnen.
Aber ich habe mir schon vor der Einfahrt nach Bremen gesagt, dass ich eigentlich nur Wasser brauche. Meine Taschen sind noch voll mit Nüssen, Riegeln und Trockenfrüchten, damit komme ich locker bis ans Ziel.
Ich halte also nur an einer Tankstelle, an der ich alle Wasserflaschen auffülle und eine kurze Essenspause einlege.
230 km: Weiterhin gilt: Genieße die Strecke…
30 Kilometer hinter Bremen geht‘s dann los mit den wirklich schweren Passagen. Galt es vorher nur ganz selten, einen Trail oder einen holprigen Feldweg zu überwinden, so geht es jetzt am laufenden Band über solche Abschnitte – über Asphalt rolle ich hier fast gar nicht mehr.
Mein Einstiegspunkt ist also nicht unbedingt empfehlenswert. Mir scheint es besser, die Runde in Bremen zu beginnen. Dann kämpft man sich zu Beginn und mit noch vollen Energiespeichern durch diese schweren Passagen und kann sich ganz zum Schluss an dem schnellen Asphalt freuen.
Ich versuche allerdings auch bei diesen Abschnitten die Strecke zu genießen. Denn schließlich bin ich weiterhin in der Natur unterwegs, das Wetter ist super, mir geht es gut. Gerade im letzten Drittel einer solchen Tour tut es gut, sich ab und zu ganz bewusst solche Dinge vor Augen zu führen.
270 km: …und versuche auch in den Unwegsamkeiten Gutes zu sehen
Trotz allem Optimismus und gutem Zureden – als nach 270 km die Trails und Sandpassagen nicht aufhören, sondern immer länger werden, kommen auch in mir die typischen Gedanken eines leidenden Orbiters hoch: „Warum musste der Scout der Strecke denn unbedingt diesen Abschnitt einbauen? Hätte man da nicht auch drum herum führen können?“
Aber was nützt all das Hadern und Lamentieren? Gerade solche Abschnitte machen schließlich die Vielfalt der Orbit-Strecken aus. Ich versuche es also weiterhin positiv zu sehen: An den unbefahrbaren Stellen kann ich meinen Beinen etwas Abwechslung schenken, indem ich laufe; bei den immer länger werdenden Sandpassagen kann ich meine Reifenbreite nutzen und Zeit gegenüber Fahrern mit dünneren Reifen gut machen.
290 km: Vor allem aber: Sei dankbar
Bei Kilometer 285 stelle ich die Musik aus, will nochmals etwas Ruhe haben. Es geht mal wieder auf einem holprigen Untergrund entlang, nach 290 km erreiche ich eine Straße. Ich mache einen routinierten Kontrollgriff, um zu sehen, ob mein Handy noch in meiner Hüfttasche steckt. Aber… da ist nichts! Ich habe mein Handy verloren.
Oh nein, soetwas ist mir noch nie passiert! Ich hatte immer gedacht, dass das Handy gar nicht aus dieser Tasche fallen kann. Aber offensichtlich ist es gerade doch passiert. Das muss auf den letzten fünf Kilometern gewesen sein, bis Kilometer 285 habe ich ja schließlich noch über das Handy Musik gehört.
Ich fahre also vorsichtig zurück, scanne den Waldpfad nach schwarzem Kunststoff ab. Innerlich stelle ich mich schon darauf ein, stundenlang mit der Lampe auf dem Helm auf diesen fünf Kilometern nach dem Handy zu suchen – was bleibt mir anderes übrig?
Doch schon nach nur wenigen hundert Metern sehe ich es. Es liegt gut sichtbar mitten auf dem Waldweg. An dieser Stelle bin ich über einen Baumstamm gesprungen, da ist es offensichtlich aus der Tasche gerutscht.
Wie sich nach so einem Schock auf einmal alle Prioritäten ändern! Wenige Minuten zuvor habe ich noch dazu tendiert, meine Bewältigung dieses Orbits für das wichtigste Ereignis, das sich gerade auf dieser Erde ereignet, zu halten; jetzt bin ich einfach nur froh, dass ich meine sieben Sache bei mir habe.
Und überhaupt tut es gut, sich immer wieder auf den Boden der Tatsachen zu begeben: Ich bin gesund, noch nicht gestürzt, darf meine Freizeit mit ganz viel Radfahren verbringen… es gibt tausend Gründe, um dankbar zu sein.
300 km: Beiße dich durch
Nach 300 km führt mich der Track auf eine schnurgerade verlaufende, alte Bahntrasse. Dabei handelt es sich allerdings nicht um eine solch schön ausgebaute Trasse, wie ich sie aus dem Ruhrgebiet kenne; stattdessen geht es über Pflastersteine und Sand nur langsam voran.
Hier beginne ich mit dem bewussten Blick auf die Kilometerzahl und dem Rechnen: Es müssten noch gut 20 Kilometer sein, vielleicht schaffe ich sie in unter einer Stunde. Zum Schluss helfen mir solche Rechenspiele, mich mit hoher Geschwindigkeit zum Ziel durchzubeißen.
323 km: Dann kommt das Ziel fast überraschend
Ganz zum Schluss treffe ich auf den fiesesten Abschnitt der gesamten Strecke: Es geht etwa einen Kilometer lang über einen völlig zugewachsenen Weg, der in den letzten Wochen offensichtlich nur von ein paar verrückten Orbitern befahren wurde. Das war‘s dann wohl mit dem schnellen ans Ziel Kommen.
Direkt hinter dem Abschnitt stehe ich jedoch ganz überrascht an meinem Start- und Zielpunkt. Mein Wahoo-Gerät hatte mir drei Kilometer zu wenig angezeigt, ich dachte, ich müsste noch mehr fahren. So fühlt sich das Beenden des Orbits etwas vorgezogen an, eigentlich könnte ich noch ein bisschen fahren.
Aber gut, 323 Kilometer sind geschafft.
Fazit zum Bremen-Orbit
- Ganz grob lässt sich die Strecke in zwei Abschnitte teilen: Von Bremen hinauf zum Deich gibt‘s viel Sand und einige heikle Passagen, die den Schnitt etwas drücken. Vom Deich runter nach Bremen geht‘s dafür die meiste Zeit auf Asphalt entlang.
- Doch auch die schwierigeren Passagen sind verglichen mit anderen Orbits gut zu meistern. Der Bremen-Orbit sollte also idealerweise mit dünnen Reifen gefahren werden, 40mm sind wahrscheinlich perfekt. Damit leidet man mehr im Sand und auf den wenigen holprigen Wegen, ist aber ansonsten schnell unterwegs.
- Man könnte Kritik wegen der langen, sandigen Wege und holprigen Passagen üben. Doch ich vermute, dass es fast unmöglich ist, in dieser Region Deutschlands eine Off-Road-Strecke zu planen, die nicht auch solche Abschnitte enthält.
- Mir hat ein Stopp in Bremen zum Wassertanken gereicht. Falls es heißer ist, muss man sicherlich öfter stoppen. Die Versorgungslage zwischen den beiden Städten ist recht dünn, aber man findet auch dort immer mal wieder einen Supermarkt, einen Bäcker oder einen Friedhof.
Besten Dank an Manuel Warrlich für das Zusammenstellen der Route!
2 Kommentare
Da hier noch gar kein Kommentar steht, will ich uns beiden diese Freude nicht vorenthalten… Sehr schön geschrieben! Nett gewesen bis zum Ende 🙂 ich bin derletzt das erste Mal auf meiner Fahrradreise über 100km gefahren, allerdings auch mit viiiiel zu viel Gepäck, ich sortiere eben ein gutes Viertel aus, was ich bei einem Freund zurücklassen kann 🙂
Viele Abschnitte kann ich selbst sehr gut nachvollziehen, gerade die „Ausrede, um seine Beine auszuruhen“ 😀 allerbeste Grüße, fühl dich umarmt 😘
Hey Nico,
ganz lieben Dank und gute Reise Dir!