Bikepacking Trans Germany 2019 – Tag Vier

by Benni

Als der Wecker um 5.30 Uhr klingelt, bin ich schon halb wach. Unglaublich – da schläft man nur drei Stunden, der ganze Körper ächzt vor Schmerzen, und doch gibt es da etwas, das den Organismus am Laufen hält. Was ist es genau? Adrenalin? Eine generelle psychische Anspannung? Muss ich mal bei Fachleuten erfragen. Ich setze mich in jedem Fall auf die Bettkante, strecke mich, schaue um mich. Jetzt gilt es erneut, jeden Handgriff möglichst effizient zu tätigen: Im Bad waschen, halb nasse Kleidung anziehen, warme Jacke drüber streifen, Sachen packen, alles ordentlich hinterlassen, 50€-Schein auf den Tisch legen, Bike nach unten tragen, Hoftür abschließen, aufbrechen.

Adorfer Bäcker

Kurz bevor ich mein Zimmer und die Pension verlasse, werfe ich noch einen Blick auf den Ticker. Tilo und Stefan sind gerade aus Bad Elster aufgebrochen und kurz vor Adorf – super, ich dachte ja, sie würden früher starten. Bestimmt werde ich sie gleich treffen, wahrscheinlich legen sie auch einen Stopp beim Bäcker ein.

Ich radle von der Pension los und einige hundert Meter zurück zum Adorfer Marktplatz. Kurz bevor ich ihn erreiche, kommt mir Stefan entgegen, wenig hinter ihm erscheint Tilo. „Da hast du aber gestern noch einige Kilometer gemacht“, begrüßt mich Stefan in seiner ruhigen Art. „Ja, ich wollte Adorf unbedingt erreichen. Ich mache gerade noch Halt bei einem Bäcker. Ihr auch?“ Das hatten die beiden nicht auf dem Schirm, sie lassen sich aber spontan davon überzeugen. Zusammen rollen wir über die Pflastersteine des Marktplatzes und zur Bäckerei. 6.10 Uhr, sie hat gerade aufgemacht.

Die ältere Frau hinter der Theke ist mal so ein richtiges Erzgebirger Original. „Was wollen sie hier essen und was mitnehmen?“, schreit sie mich fast an. „Ja, das sage ich ihnen ja jetzt“, denke ich mir. „Zwei so Plunder und ein Käsebrötchen zum Hieressen, zwei von denen da und einen Sandtaler zum Mitnehmen.“ Leider gibt‘s wenig Auswahl und außer den Käsebrötchen nichts Salziges. „Außerdem einen Kaffee.“ „Kaffee?“, die Frau schaut sich verkrampft um, „muss ich mal schauen, ob wir noch was da haben.“ Es reicht noch für eine Tasse. Ich sage Tilo und Stefan, sie können ruhig was bei mir mittrinken. Im Moment fühle ich überhaupt keine Wettkampf-Konkurrenz zwischen mir und ihnen, sondern bin nur froh, dass sie da sind.

Im gleichen Tempo unterwegs

Als mir die Frau das Rückgeld auf meinen 50€-Schein gibt, fällt mir schlagartig ein, dass ich damit passend die Pension zahlen kann. Umso schneller stopfe ich das Essen in mich hinein und stürme noch vor Tilo und Stefan los. An der Pension greife ich mir wieder den Schlüssel neben dem Blumentopf, öffne die Hoftür, eile die Treppen hoch, ins Zimmer rein und tausche den 50er- gegen einen 20er- und einen 10er-Schein aus. Perfekt, jetzt ist auch der Sparfuchs in mir zufrieden.

Als ich von der Pension aufbreche, haben mich Tilo und Stefan gerade wieder überholt. Es geht jedoch direkt steil bergauf, da angle ich sie mir wieder. Ich bin als erster oben und fahre kurz alleine, auf einer flachen Ebene holen sie mich aber wiederum ein. Das ist voll in Ordnung so, ich bin noch immer nicht im Wettkampfmodus, möchte nur mein Tempo fahren. So habe ich es auch die letzten Tage gehandhabt, wenn ich mit anderen unterwegs war: Man fährt nicht die ganze Zeit neben- oder hintereinander, damit bremst man sich nur aus, weil der eine schneller am Berg, der andere wiederum auf Abfahrten flotter ist. Auf kurz oder lang trifft man sich doch wieder.

So ergibt es sich auch bei uns: Auf Abfahrten stürmen Stefan und ich meist voraus, Tilo muss es da mit seinem Gravelbike etwas langsamer angehen. Dafür tritt er gehörig auf flachen Stücken in die Pedalen und fängt uns dort wieder ein. Da es die nächsten Stunden allerdings nur selten steil bergauf- oder ab geht, sondern meist eine stetig ansteigende Schotterstraße hinauf, fahren wird viel nebeneinander.

Geselliges Radeln

Dabei erzählen mir die beiden, wieso sie die Nacht in Bad Elster verbracht haben. Dort gäbe es das einzige Hotel mit einem Nachtportier in der Umgebung. Dafür habe es aber auch 4 Sterne und sei dementsprechend teuer gewesen. Sogar Bademäntel habe das Zimmer zu bieten gehabt! In denen hätten die beiden geschlafen. Na, da ist es ja super für mich gelaufen, denke ich mir, ich musste viel weniger zahlen und nicht einmal den Track verlassen. Ein Hoch auf die spontane Pensionsbesitzerin in Adorf, die ich wahrscheinlich niemals kennenlernen werde. (Aber vielleicht lesen Sie das, gute Frau, ja irgendwann mal.)

Auch die nächsten Stunden rollen wir gemeinsam über die gut befahrbaren, dafür aber aber auch ziemlich eintönigen Waldwege. Wie gut, dass ich gerade hier mit den beiden unterwegs bin! Wir nutzen die Breite der Wege, fahren zu zweit oder sogar zu dritt nebeneinander und reden viel. Gesprächsthemen? Hauptsächlich natürlich Expertentalk: Wieso hast du dich für diese Taschen entschieden, bist du mit der Übersetzung (für Laien: Anzahl der Gänge, Zahnräder und Zahnradzähne) zufrieden, welche Touren oder Rennen bist du schon gefahren?…

Einmal kann ich mich vor Lachen fast nicht auf dem Fahrrad halten, als Stefan mit einem unnachahmlich trockenen Humor feststellt: „Die Monokultur der Fichten ist so eintönig und langweilig, sodass die Menschen hier auf solche Ideen kommen wie aus Baumstämmen Pilze zu schnitzen.“ Es stimmt wirklich, andauernd passieren wir irgendwelche Holzskulpturen – seltene Highlights am Wegesrand.

Natürlich sprechen wir auch viel über das Rennen selber. Ich wage es, laut über eine mögliche Zielzeit nachzudenken. Es liegt bereits die Hälfte der Strecke hinter uns, zudem die heftigsten Anstiege. Wenn wir es heute bis zur Elbe schaffen und die nächsten beiden Tage jeweils 300 Kilometer abspulen, liegt eine Zielzeit unter sechs Tagen drin. „Darüber muss ich erstmal nachdenken“, reagiert Stefan ruhig, „rechnen fällt schon nicht mehr so leicht.“

Foto von Tilo Lier

Morgendliche Spekulationen

Wie komme ich überhaupt dazu, so optimistisch auf den Rennverlauf voraus zu blicken? Mir geht es an diesem Morgen wieder blendend. Schmerzen habe ich nach dem ersten Warmtreten und entspannten Rollen auf Schotter fast gar keine mehr. Zudem fühle ich mich psychisch topp. Ich genieße es, mit Stefan und Tilo durch die Tiefen des Erzgebirges zu rauschen, zu wissen, dass wir ziemlich weit vorne sind, dass ich mein Ziel, unter acht Tage zu bleiben, ziemlich sicher erreichen werde. Sogar eine Zielzeit unter sieben Tagen scheint mir alles andere als unrealistisch.

Hier muss ich kurz einhaken und etwas weiter ausholen. Vor zwei Jahren war ich in Basel beim Start des BTG-Rennens dabei (der Startort lag grad um die Ecke meiner Wohnung). Damals sind verglichen mit diesem Jahr wenige Leute an den Start gegangen, nämlich nur 22 Mann (keine Frau). Trotzdem konnte man diesen Fahrern bereits live im Internet folgen. Das habe ich in den Tagen darauf dann auch gemacht und gestaunt, wie René Fischer als schnellster Fahrer in nur sechs Tagen und sieben Stunden das Kap Arkona erreichte (die genauen Ergebnisse der letzten Jahre kann man hier sehen).

Im September 2017 bin ich die Strecke der BTG selber ab der Elbe in umgekehrter Richtung abgefahren. Je mehr ich von der Strecke kennengelernt habe, desto beeindruckter war ich von der Leistung Renés. Wie kann man auf solch anspruchsvollem Untergrund und bei so vielen Höhenmeter mehr als 250 Kilometer am Tag schaffen? René wurde für mich immer mehr zum Übermenschen, sein Leistungsvermögen schien Lichtjahre von meinem eigenen entfernt.

Klar, die Zielzeiten lassen sich nicht exakt vergleichen, weil die Strecke der BTG jedes Jahr etwas verändert wird. Aber trotzdem: René hatte die dritte Nacht im Fichtelgebirge verbracht, ich dagegen habe es gestern Nacht bereits bis nach Adorf geschafft. Tilo, Stefan und ich waren der Zeit von René Fischer also gerade voraus – Wahnsinn, das hätte ich vor zwei Jahren für mich persönlich nicht für möglich gehalten.

René Fischer vor zwei Jahren auf dem Fichtelberg; Foto von René Fischer

Gulasch um kurz nach 10

Genug des Ausholens und Abschweifens – diese Dinge gehen mir in jedem Fall an diesem Morgen irgendwo im Erzgebirge durch den Kopf, hauen mich fast um und sorgen für mächtig Euphorie. Jetzt gilt es weiterfahren, durchhalten, beißen und mit einer super Zeit zu finishen, vielleicht sogar mit Tilo und Stefan an meiner Seite.

Nach einigen Stunden geselligen und fröhlichen Fahrens erreichen wir bereits um kurz nach 10 Uhr die Grenzstadt Johanngeorgenstadt, einen ziemlich bizarren Ort. Die Straßen sind gespickt mit Geschäften, die billiges Chinazeug verkaufen und in rauen Mengen auf der Straße ausstellen. Hier scheint man von der Badeente bis zur Gießkanne alles zu bekommen. Wahrscheinlich gibt‘s auch viel Prostitution.

Trotz alledem hat sich Tilo auf den Ort gefreut. Auf seiner Testtour hat er nämlich hier Halt gemacht und Gulasch mit Knödeln und Rotkraut verdrückt. Genau das hat er jetzt wieder vor, gezielt steuert er ein Restaurant an, in dem es „böhmisches Essen“ gibt. Stefan folgt ihm, und auch ich stelle wie selbstverständlich mein Fahrrad vor dem Restaurant ab. „Also, ich folge euch jetzt einfach mal“, merke ich vorsichtig an, bevor wir hineingehen, vielleicht haben sie ja was dagegen, länger zu dritt unterwegs zu sein. Darüber hatten wir noch gar nicht gesprochen. „Klar, kein Problem“, antwortet Tilo kurz.

Drinnen muss die Bedienung erstmal abklären, ob die Küche um kurz nach 10 schon bereit ist, Gulasch, Knödel und Kraut rauszugeben. Kurze Zeit später steht es aber schon vor uns. Während wir uns die feine Speise hineinschaufeln, blicken wir abwechselnd auf den Ticker und die folgenden Stunden voraus.

Optimistische Tagesplanung

Ich wage es, eine Tagesplanung auszusprechen: „Wenn wir weiter in dem Tempo unterwegs sind, können wir es heute Nacht bis zur Elbe und nach Bad Schandau schaffen. Das wäre super, dort könnten wir nämlich wieder in einer Pension oder sowas übernachten. Soll ich mal nach einer Unterkunft suchen?“ Stefan antwortet gewohnt kurz, aber bestimmt: „Mach!“ und ich verstehe, was er sagen will: Halt keine Reden, klar ziehen wir das Ding gemeinsam bis Bad Schandau durch und gönnen uns dann eine Unterkunft.

Ich rufe direkt bei einer Art Hostel, danach bei der Jugendherberge an – alles voll. Klar, ist ja Hochsommer und Bad Schandau ein beliebtes Urlaubsziel, das wird wohl nichts. Doch Stefan hat noch ein Ass im Ärmel und findet eine Ferienwohnung über Booking.com. Bingo! Der Mann am Telefon, der irgendwo in Deutschland sitzt und viele hundert Appartements verwaltet, erklärt mir sofort, wie wir mitten in der Nacht an den Schlüssel kommen, wo wir unsere Räder unterstellen können und wo wir das Geld hinterlegen sollen. Am Abend, wenn wir genauer absehen können, wann wir da sind, sollen wir uns nochmals melden. Alles klar, hört sich alles super an. Und der Preis ist mit 100€ für uns drei auch okay.

Wir verlassen Johanngeorgenstadt nicht nur mit vollen Mägen, sondern auch mit dem Wissen, dass irgendwo dahinten, hinter all den An- und Abstiegen, eine Dusche und ein Bett auf uns wartet. Das motiviert ungemein. Auf geht‘s!

Fichtelberg

Von Johanngeorgenstadt geht es auf ziemlich direktem Weg den Fichtelberg hinauf. Es wartet mit gut 1200 Metern der höchte Gipfel der Tour. Hier ist es allerdings ein bisschen so wie mit dem Mount Everest und den anderen 8000er Gipfeln – der Fichtelberg stellt zwar den höchten Punkt, bei weitem aber nicht den anstrengendsten Anstieg dar. Es geht auf breiten Wegen, hauptsächlich sogar auf Asphalt auf die Spitze Sachsens. Zusätzlich gibt es endlich einmal wieder etwas mehr Panorama und Landschaft zu sehen – die monotone Fichtenwelt scheint hinter uns zu liegen.

Oben angekommen tanken wir Wasser auf und machen ein obligatorisches Foto. Als Fotografen engagieren wir einen anderen Mountainbiker, der tatsächlich auch ohne Motor hier hinauf geradelt ist. Eine Seltenheit, hier oben sieht man nämlich fast ausschließlich E-Bikes.

Nächster Halt: Bäckerei Rach

Tilo checkt vor der Weiterfahrt eine seiner Zettel – er ist bestens vorbereitet, hat sich verschiedene Listen mit Supermärkten, Restaurants und Fahrradgeschäften, die am Wegesrand liegen, ausgedruckt. „Der nächste Edeka ist gut 60 Kilometer entfernt, bis dahin können wir durchfahren.“ „Moment“, melde ich mich zu Wort, „es gibt da eine Bäckerei, in der ich vor zwei Jahren Halt gemacht habe. Da muss ich unbedingt auch dieses Jahr wieder vorbeischauen.“ Ich erinnere mich nicht mehr genau, in welchem Ort sie liegt. Aber irgendwo zwischen Fichtelberg und Seiffen muss es sein. Die beiden sind einverstanden, so ein kleiner Bäckerstopp liegt immer drin.

Wir sausen den Gipfel wieder hinab, wobei die Wege runter deutlich anspruchsvoller sind, als hinauf. Es geht einen sehr steilen und wurzeligen Pfad bergab, meine Arme und Hände werden ordentlich durchgeschüttelt. Trotz Federgabel habe ich zunehmend Schmerzen in den Händen – ein weiterer wunder Punkt, der sich so langsam meldet. Wie gut, dass nach dieser holprigen Abfahrt erneut hauptsächlich sanfte Waldwege warten. Hier kann ich meine Hände gut entlasten, indem ich mich auf meine Aerobar lege – ein Teil am Fahrrad, das ich nicht mehr missen möchte.

Nach einiger Zeit muss ich für eine Klopause stoppen, Tilo und Stefan fahren weiter. Als ich sie wieder treffe, sitzen sie vor einer Bäckerei – der Bäckerei. Es steht bereits Kaffee vor ihnen, außerdem haben sie ein breites Lächeln im Gesicht. „Sie erwartet dich bereits“, kommentiert Stefan gewohnt kurz aber vielsagend. Die beiden scheinen sich ziemlich über meine Bäckerei-Bekanntschaft zu amüsieren.

Die Bäckerei Rach in Reitzenhain ist einer dieser Orte, an dem fast jeder BTG-Fahrer Halt macht, weil sie die einzige Essensmöglichkeit in dieser Gegend darstellt. Vor zwei Jahren bin ich mächtig hungrig auf sie gestoßen, habe einiges gegessen, zwei Kaffee getrunken und dabei lange mit Frau Rach geredet. Was für eine Seele von Mensch! Sie strahlt immer, außerdem freut sie sich riesig, wenn jeden Sommer ein paar verrückte Bikepacker durch ihr kleines Dorf rauschen.

In den folgenden Wochen hatten wir noch etwas Emailkontakt. Jetzt freue ich mich, sie nach zwei Jahren wieder zu sehen. Während ich einen Kaffee und so einige leckere Kuchenstücke verdrücke, unterhalten wir uns. Immer mal wieder schauen andere Leute rein, sobald Karin allerdings merkt, dass ich oder Stefan und Tilo etwas brauchen, unterbricht sie die Bedienung der lokalen Kunden. „Diese Männer brauchen ganz schnell was zum Essen und zum Trinken, ich erkläre ihnen später, wieso.“ Einfach genial, diese Frau! Wie schön wäre es, wenn es für die BTG-Fahrer bei jeder Bäckerei solch eine Premium-Bedienung gäbe!

Ich unterrichte sie noch kurz über den Zwischenstand. Peter Scheerer müsste auch bald hier auftauchen, der hat sich nämlich bis auf 30 Kilometer an uns herangepirscht. Ihn kennt sie auch schon, vom letzten Jahr.

Dann möchte ich bezahlen. Keine Chance, ich bin eingeladen. Danke Karin Rach!

Zwischenstände

Während ich alte Bekanntschaften gepflegt habe, haben Stefan und Tilo den Zwischenstand genauestens studiert. Ganz vorne scheint sich ein spannender Zweikampf zwischen dem Tschechen Rostislav Kubný und dem Belgier Lieven Schroyen abzuzeichnen. Wir drei teilen uns momentan Platz 12. Uns im Nacken sitzt wie gewohnt Linus Eckardt, außerdem hat sich wie bereits erwähnt Pete mächtig nach vorne gekämpft. Später würde Tilo auf Strava sehen, dass er letzte Nacht einfach durchgefahren ist. Verrückt, der Typ! Oder wie Tilo es kommentiert: „Völlig sinnlos in dieser Phase des Rennens.“

Außerdem sehen wir, dass nicht weit vor uns Stephan Wagner aus dem Rennen ausgestiegen ist. In der WhatsApp-Gruppe schreibt er nur, dass er aufhört, keine Begründung. Ich muss ja doch zugeben, dass solche Nachrichten einen recht großen Freudenmoment in mir auflösen. Mit jedem Fahrer, der vor uns ausscheidet, schieben wir uns schließlich einen Platz weiter nach vorne. Jetzt sind wir auf Platz 11. Schon verrückt, was so ein Rennen alles mit einem macht.

Stop! Forstarbeiten! Lebensgefahr!

Die folgenden Stunden bieten wenig Erwähnenswertes, die meiste Zeit geht es auf recht gut befahrbarenen Wegen auf und ab durch das zentrale Erzgebirge. Wir fahren durch die Spielzeugstadt Seiffen, Heimat des weltberühmten erzgebirgischen Holzkunsthandwerks. In Olbernhau legen wir den gewohnten Supermarktstopp ein, das geht erfreulicherweise auch zu dritt recht zügig.

Kurze Zeit später gibt’s dann nochmals etwas Abwechslung: Über dem Weg ist ein riesiges Banner mit der Aufschrift „Stop! Forstarbeiten! Lebensgefahr!“ gespannt. In solchen Fällen darf man eigentlich von dem vorgegebenen Track abweichen und den gesperrten Abschnitt umgehen. Doch was macht man als eiliger Bikepacker, wenn die Umgehung ein riesiger Umweg wäre? Man rast natürlich zielstrebig an der Absperrung vorbei.

Nach einigen hundert Metern müssen wir vor einem großen Gerät halt machen, mit dem ein Waldarbeiter gerade Baumstämme verschiebt. Als er uns sieht, gerät er fast in Rage: „Könnt ihr nicht lesen? Wenn euch hier was passiert, dann bin ich dran! Und außerdem seid ihr nicht die ersten heute, die hier durchfahren…“ Wie gut, dass Stefan gerade vorne fährt und sich mit seiner ruhigen Stimme bei dem Waldarbeiter entschuldigt.

Ich mache mir Sorgen um die große Meute, die uns folgt und mit Sicherheit mit ähnlicher Entschlossenheit an der Absperrung vorbeirauschen wird. Ich sehe den Waldarbeiter bereits rot anlaufen. Vorsorglich setze ich eine Warnung über die WhatsApp-Gruppe ab.

Überraschung auf dem Hochmoor

Als die Abenddämmerung einsetzt, erreichen wir das Georgenfelder Hochmoor. Besonders der Blick von hier oben beeindruckt mich. Man sieht auf der einen Seite hinab nach Tschechien und in die Böhmische Schweiz, auf der anderen Seite breitet sich Sachsen aus. Tilo fragt uns, ob wir schon die Ostsee sehen würden, irgendwo dahinten müsste sie sein.

Auf der Hochebene, die sich an das Hochmoor anschließt, sehe ich auf einmal einen Mann, der seine Kamera genau auf mich richtet. Zufall, denke ich, und will schon an ihm vorbei fahren. Doch dann ruft er mir irgendetwas zu. Ich bremse, nehme meine Kopfhörer aus den Ohren und verstehe ihn: „Ganz große Leistung, Benni. Ihr seid super, das schafft wirklich nicht jeder…“ Aha, er weiß offensichtlich um das Rennen. Es handelt sich um Linus‘ Vater, er ist extra aus Dresden hier hoch gefahren, um seinen Sohn am Streckenrand anzufeuern. Nach den Leuten in Tuttlingen ist er also der zweite Fan am Wegesrand.

Auf seinen Sohn Linus wird er allerdings noch etwas warten müssen, der ist nämlich noch 30 Kilometer hinter uns und muss erst auf das Hochmoor hinauf fahren. Aber dafür ist die Aussicht nicht schlecht.

Foto von Linus‘ Vater

Trails auf Tschechisch

Jetzt sind es noch knapp 40 Kilometer bis zum dritten Checkpoint – eine einfache Sache am Schluss dieses vierten Tages, so denke ich mir. Der Blick auf das Höhenprofil verrät nämlich, dass es von hier bis zur Elbe stetig bergab geht. Den dritten Checkpoint bildet der Katzstein in der Sächsischen Schweiz, danach sind es nochmals gut fünf Kilometer bis zur Elbe und dem ersehnten Bett. Mein Optimismus geht mal wieder mit mir durch, ich bin gedanklich schon halb in Bad Schandau.

Doch mein Optimismus wird schon nach wenigen Kilometern von der harten Realität des Bikepackings und der Unwegsamkeit tschechischer Trails eingeholt. Auf solchen geht es nämlich die nächsten 30 Kilometer entlang. Tilo, Stefan und ich kämpfen uns durch hohes Gras, über lose Steine und entlang unendlich vieler enger Kurven. Immerhin – Tilo kennt diesen Abschnitt von seiner Testtour, er fährt voraus und drückt ordentlich aufs Gas. Gut so! Hier mit mäßiger Geschwindigkeit durchzufahren, würde einem wahrscheinlich komplett den Stecker ziehen. Ich folge dem hellen Schein von Tilos Lampe. Wie gut, dass ich gerade hier mit den beiden unterwegs bin. Wäre ich alleine, würde ich wahrscheinlich mehrmals Pause machen und mich einfach an den Wegesrand legen.

Als wir uns einmal verfahren, müssen wir von den Rädern absteigen und auf die Navis schauen. Stehen! Wer hätte gedacht, wie angenehm das Stehen sein kann. Am liebsten würde ich jetzt einfach eine halbe Stunde Stehpause einlegen, vom Liegen gar nicht zu reden. Doch wir müssen weiter, immer weiter!

1000 Miles

Als es bereits stockdunkel ist, kommen uns zwei ebenfalls hell beleuchtete Räder mit Bikepacking-Taschen entgegen. Sind da BTG-Fahrer in die falsche Richtung unterwegs? Oder fahren wir in die entgegengesetzte Richtung? Ich blicke kurz auf mein Navi – nein, alles okay. Also weiter, ich grüße die beiden Mountainbiker nur kurz.

Später wird mir aufgehen, dass es sich um zwei Teilnehmer von den 1000 Miles gehandelt haben muss, ein ziemlich hartes Bikepacking Rennen, das einmal durch ganz Tschechien führt. Es ist schon eine Woche vor der BTG in der Slowakei gestartet, hier in der Sächsischen Schweiz befinden sich die Fahrer auf den letzten zweihundert Kilometern. Die müssen also noch müder sein als wir und kämpfen sich die Trails, die wir gerade hinab fahren, hinauf. Es geht also immer noch härter.

Checkpoint 3

Bei diesem Holpern und Stolpern durch die Nacht überkommt mich wieder das Gefühl der Zeitdehnung: Die Kilometeranzeige will einfach nicht steigen, werden wir es jemals zum dritten Checkpoint schaffen? Doch tatsächlich, nach einer gefühlten Ewigkeit kehren wir nach Deutschland zurück, dann sind es nur noch ein paar Kilometer zum Katzstein. Geschafft! Wir schießen alle ein unscharfes Selfie und brechen schon wieder auf.

Vorher bemerken wir aber noch, dass unter einer Bank neben dem Katzstein in Biwaksäcken gehüllt Torben und Lars, auch genannt Team Denmark, schlafen. Gerade schieben wir uns auf dem Leaderboard also an den beiden vorbei. Auch wenn das nur ein kurzes Glück ist, weil sie morgen mit Sicherheit viel früher aufbrechen werden als wir – es ist ein gutes Gefühl.

Luxus in Bad Schandau

Wenig später überqueren wir die Elbe. Hier war ich bereits vor gut einem Monat und bin von Tschechien der Elbe folgend nach Dresden gefahren (nachzulesen hier). Ich wusste damals: Wenn ich es im Juli bis hierhin schaffe, dann liegt der Großteil der Berge hinter mir. Die nächsten 650 Kilometer würden zwar auch kein Spaziergang sein, aber zumindest liegt die große Kletterei hinter mir. Ich habe es tatsächlich geschafft, in vier Tagen, yes!

Etwas außerhalb des Stadtzentrums finden wir unser Appartment. Ich hatte den Besitzer auf dem Hochmoor angerufen, dort hatte er mir alles erklärt: Unter einer riesigen Blumenvase liegt der Schlüssel für die Fahrradgarage. Schnell finde ich ihn, wir stellen die Räder sicher unter. Der Haustürschlüssel ist in einem Schlüsselkasten, für den wir einen Code erhalten haben. Funktioniert auch alles ohne Probleme. Wir betreten das große Haus und folgen den Treppen in den dritten Stock – die letzte Bergetappe für heute.

Als wir die Tür zu unserem Dachgeschoss-Appartement öffnen, sind wir mächtig überrascht: An der Decke hängt ein Kronleuchter, alles ist edel ausgestattet. Die Wohnung ist riesig, es gibt zwei Schlafzimmer mit jeweils einem Doppelbett und Bad, außerdem ein Wohnzimmer und eine Küche. Das ist alles weit über dem, was wir jetzt brauchen – eine Dusche, eine Matratze, eine Decke und eine Steckdose würden mir schon reichen – aber was soll’s. Tilo und Stefan amüsieren sich besonders, haben sie ja schon gestern in einem 4-Sterne-Hotel genächtigt.

Nudeln um kurz vor 2

Man könnte jetzt sagen, dass eine solche Unterkunft wenig mit Bikepacking zu tun hat. Das stimmt natürlich. Auf der anderen Seite braucht es auch Cleverness und Kompetenz, vorausschauend zu planen und solche eine Übernachtung zu arrangieren. Der Stolz darüber, dass wir es geschafft haben, hier unterzukommen, überwiegt bei uns dreien.

Zu allem Überfluss entdeckt Stefan in den Tiefen der Küchenschränke noch eine Packung Nudeln. So serviert er uns um kurz vor zwei Nudeln mit Olivenöl und Salz – ich kann mich nur schwer erinnern, jemals etwas besseres gegessen zu haben.

Während des Nachtessens schauen wir auf den morgigen Tag voraus. Klar ist uns allen: Aufstehen um 4 Uhr ist wieder nicht drin. Außerdem sind wir uns bewusst, dass die Strecke morgen zwar flacher ist, mit viel Sand, Pflastersteinen und Beton warten jedoch neue Herausforderungen. Mal sehen, ob wir morgen wirklich 300 Kilometer schaffen.

Was auch immer der Tag morgen bringt, jetzt kann mich nichts mehr aufhalten. Ich habe es bis zur Elbe geschafft, und das in einer super Zeit. Kap Arkona, bald bin ich da!

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2 Kommentare

Bikepacking Trans Germany 2019 - Tag Fünf - Velospektive August 1, 2019 - 11:27

[…] Bikepacking […]

Antwort
chris weys August 2, 2019 - 07:11

very nice!

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