Denk ich an Europa in der Nacht… von europäischen Wäldern und Wahlen

by Benni
In der Slowakei angekommen ist Deutschland für mich nun wirlich nicht mehr weit entfernt. Das merke ich unter anderem daran, dass in der Slowakei wieder die mitteleuropäische Zeit gilt – wie in Deutschland auch. Trotzdem liegen noch eine gut 800 Kilometer Fahrt durch die Slowakei und Tschechien vor mir, bevor ich wieder nach Deutschland zurückkehre.

Sonne und Regen in der Slowakei

Im Süden der Slowakei nehme ich Abschied von Thomas und seiner Familie, mit denen ich zwei Tage verbracht habe. Die nächste Familie wartet schon auf mich. In der jordanischen Hauptstadt Amman habe ich Stanislav und Alena kennengelernt, sie haben dort ihre Tochter, ihren Schwiegersohn und ihre Enkel besucht, mit denen ich wiederum zwei Monate in Amman verbracht habe. „Du musst uns unbedingt in Tschechien besuchen, wenn du wieder zurückfährst“, haben sie damals zu mir gesagt. Gesagt, getan – ich mache mich also auf, um in zwei Tagen die Slowakei zu durchqueren und bei ihnen in Ost-Tschechien anzukommen.

Komoot will mich dazu durch das slowakische Mittelgebirge und lange Waldpassagen führen. Ich bin skeptisch, und das nicht ohne Grund: Im Balkan, der Türkei und im Kaukasus bin ich in guter Hoffnung immer wieder solchen Wegen gefolgt, bald verwandelten sie sich jedoch in Schlammpisten, unbefahrbare Trameplpfade oder endeten gar vor irgendeinem Tor oder Zaun. Doch ich wage es auch diesmal wieder, schließlich verbessert sich der Weg- und Straßenzustand zunehmend, je weiter westlich ich komme.

Diesmal werde ich nicht enttäuscht. Kleine Asphalt- und Schotterwege führen mich stundenlang durch einsame Wälder, doch selbst im tiefsten Dickicht gibt es weiter Hinweisschilder, die Wege machen keine Anzeichen, irgendwann zu enden. Was für ein Luxus! Gerade wegen solch gut ausgebauter Wege habe ich Mitteleuropa vermisst.

Nach diesem ersten Tag und 150 Kilometern ist Tschechien bereits zum Greifen nahe. Doch dann setzt Regen ein, und zwar so starker Regen, wie ich ihn auf meiner gesamten Reise noch nicht erlebt habe. Schon mein Zelt muss ich triefend nass einpacken, und auch meine Kleidung ist nach drei Stunden Dauerregen von innen und außen durchtränkt. Nach weiteren vier Stunden auf dem Sattel, in denen es keine einzige Minute aufgehört hat zu regnen, muss ich feststellen, dass ich es heute nicht mehr zu meinen Freunden in Tschechien schaffe. Vom Regen geschützt in einer Bushaltestelle sitzend, schreibe ich ihnen, dass ich erst morgen komme.

Direkt danach öffne ich meine Couchsurfing-App. Diese zeigt mir doch tatsächlich an, dass ganz in meiner Nähe Couchsurfer namens Ivan und Michaela mit ihren drei Kinder wohnen und Gäste willkommen heißt. Noch überraschter bin ich darüber, dass ich nur fünf Minuten, nachdem ich diese Familie um einen Schlafplatz angefragt habe, angerufen werde. Es meldet sich eine deutsche Austauschschülerin, die im Moment bei Ivan und Michaela wohnt. Ich sei herzlich willkommen, meint sie, eine heiße Dusche und warmes Essen würde auch schon auf mich warten.

Kurze Zeit später sitze ich in der warmen Stube dieser gastfreundlichen Familie – frisch geduscht und mit Abendessen vor mir. Was für eine Geschenk! Und was für eine gastfreundliche Familie! Ivan und Michaela sind eigentlich genug damit beschäftigt, ihre drei kleinen Kinder aufzuziehen und sie zu Hause zu unterrichten. Doch da sie die Kinder zweisprachig slowakisch und englisch erziehen, freuen sie sich über spontane Gäste wie mich, die etwas Englisch mit ihren Kindern sprechen.

Zu Gast bei Freunden in Tschechien

Am nächsten Morgen regnet es immer noch, alle Bäche und Flüsse in meiner Umgebung drohen mittlerweile, über die Ufer zu treten. Aber immerhin, am Nachmittag soll es aufhören zu regnen, außerdem sind es nur noch 50 Kilometer bis zu Stanislav und Alena. Ich stürze mich also erneut in die Fluten. Einige Stunden später bin ich wieder völlig durchnässt, doch auch bei den beiden wartet bereits Essen und eine warme Dusche. Wie sehr einen doch so etwas Basales wie ein Haus, eine warme Dusche und Essen nach dem stundenlangen Fahren durch Regen zufrieden stellen kann!

Den nächsten Tag verbringe ich in der Gemeinschaft der Großfamilie, also nicht nur mit Stanislav und Alena, sondern zusätzlich mit dreien ihrer Kinder und vielen Enkeln, die alle in der Nähe wohnen. Achja, das Familienleben, es erscheint einem so paradiesisch, wenn man tage- und wochenlang alleine reist. Dementsprechend fällt der Abschied wieder schwer. Wie viele solcher Abschiede ich in den letzten Monaten erlebt habe!

Die ersten ungefähr 150 Meter werde ich noch von einigen Kindern begleitet, dann bin ich wieder alleine.

Oh wie schön ist Tschechien!

Mein Plan sieht es vor, in vier Tagen Tschechien zu durchqueren und nach Dresden zu gelangen. Dazu will ich durch die südlichen Ausläufer des Riesengebirges fahren und die großen Städte meiden. Komoot schlägt mir erneut eine vielversprechende Route durch große Wälder und kleine Dörfer vor.

Schon nach 50 Kilometern bin ich hin und weg von der Schönheit tschechischer Landschaft. Eigentlich gibt es gar nicht allzu Beeindruckendes zu sehen, grüne Weizenfelder wechseln sich mit dichten Nadelwäldern und alten böhmischen Dörfern ab. Aber wahrscheinlich ist es gerade das, was mich so begeistert: Die Beschaulichkeit vermittelt eine Ruhe und Gemächlichkeit, die mich selbst zu Kontemplation und Reflexion führt.

Was ich am meisten schätze, sind die riesigen Wälder. Das ist definitiv etwas, was typisch für Nord- und Mitteleuropa ist, im Balkan, Kaukasus und im Nahen Osten findet man soetwas überhaupt nicht. Hier im Norden Tschechiens gibt es noch besonders große und zusammenhängende Waldgebiete, in denen ich stundenlang unterwegs bin und eher auf Rehe und Wildschweine, als auf andere Menschen treffe.

Nach den Monaten, in denen ich fern Europas unterwegs war, lerne ich den mitteleuropäischen Wald ganz neu schätzen. Zwar bin ich mir bewusst, dass hier nur noch ganz wenige Wälder gibt, die nicht vom Menschen beeinflusst oder sogar geplant sind und deshalb in unnatürlichen Monokulturen auftreten; aber trotzdem schätze ich es als Privileg, stundenlang auf einem einsamen Forstweg durch solch einen Wald zu fahren. Sehnsüchtig betrachte ich auf meiner Karte die unzähligen Wege, die kreuz und quer durch den Wald führen. Man könnte tagelang diesen Wegen folgen und ohne Zeitlimit und Ziel im Wald verloren gehen. Das wäre vielleicht mal eine Urlaubsidee für die Zukunft.

Politische Reflexionen auf dem Fahrrad

Die einsamen Stunden in den dichten Wäldern nutze ich mal wieder, um Hörbücher und Podcasts zu hören. Besonders die Europawahl, die gerade stattfindet, als ich durch Tschechien reise, wird da besonders häufig thematisiert. In den letzten Monate habe ich fünfzehn europäische Länder mit dem Fahrrad durchquert. Alleine deshalb hat die Europawahl für mich eine hohe Relevanz und ich höre umso aufmerksamer zu, wenn beispielsweise die politischen Entwicklungen in Ungarn, Polen oder Rumänien thematisiert werden.

Mir wird klar: Im Süden des Kontinentes gewinnen extreme linke Parteien an Boden, sie fordern mehr Gerechtigkeit und sozialen Ausgleich innerhalb der EU. Im Norden erhalten dagegen vermehrt rechte Parteien die Stimmen, sie wollen die ärmeren südlichen Ländern nicht mehr „durchfüttern“, viele wollen die EU gar abschaffen oder sie zumindest verlassen. Dieser Kontinent, durch den ich da reise, war wohl schon lange nicht mehr so gespalten.

Besonders aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die Analyse von Ágnes Heller, einer ungarischen Philosophin. Sie warnt davor, dass die überall zunehmenden nationalistische Kräfte, sollten sie einmal innerhalb ihres Landes die Mehrheit gewinnen, sich agressiv nach außen richten werden. Im schlimmsten Fall käme es so in nicht allzu ferner Zukunft erneut zu Krieg innerhalb des europäische Kontinentes. Krieg? Krieg auf diesem Kontinent, Krieg in den beschaulichen Wäldern und Dörfern, durch die ich gerade mit dem Rad fahre?

Natürlich muss es nicht so kommen. Doch mir ist bewusst, dass der Frieden und die Beschaulichkeit, die ich da gerade so wertschätze, eine fragile und alles andere als eine selbstverständliche ist. Dieser Gedanke beschäftigt mich stundenlang auf dem Fahrrad. An einem Abend kann ich, obwohl ich 150 Kilometer zurückgelegt habe, über gute Lösungen für Europa nachdenkend nicht einschlafen. Denk ich an Europa in der Nacht, so bin ich um den Schlaf gebracht.

Cycling Trivialities

So how’s it gonna be
When it all comes down, cycling trivialities

Liedtext von José González

Eigentlich ist so eine lange Radreise ja sehr monoton, ja fast trivial: Man wacht morgens im Schlafsack und Zelt auf, packt beides zusammen, schiebt sich Essen in den Mund und setzt sich auf sein Fahrrad. Darauf verbringt man dann einige Stunden, sorgt dafür, dass sich Pedalen, Riemen und Räder im Kreis drehen, schiebt sich zwischendurch nochmal was zum Essen rein und hält schlussendlich abends irgendwo an, packt das Zelt und den Schlafsack wieder aus und fällt für gewöhnlich recht schnell in den Schlafmodus zurück.

Das Gute bei all dieser Trivialität ist, dass sie einem einen Rythmus vorgibt, ja, einen in einen Lebensrythmus versetzt, der innere Kontinuität und Klarheit schafft. Durch die regelmäßige äußere Monotonität wird man so schön auf sich selbst und die eigene Existenz zurückgeworfen. Da lösen sich komplizierte Sachverhalte im Kopf auf. Entweder findet man im Laufe der vielen Radstunden eine Lösung, oder man kommt zu dem Schluss, dass es keine einfache Lösung gibt. Das Strampeln auf dem Rad lässt einen das Problem dann einfacher zur Seite legen und sich auf die Trivialität der eigenen Existenz fokussieren.

Wie sieht das in meinem Fall aus? Was für eine Existenz erkenne ich bei all dieser Trivialität des Radfahrens? Ich schaue an mir selber runter, sehe, wie ich mit meinen beiden gesunden Beinen relativ mühelos in die Pedalen strample; während 11.000 Kilometern habe ich mich nie verletzt, wurde nie ernsthaft krank, bin nie gestürtzt; mein Fahrrad ist auch noch heile, keinen Gegenstand habe ich verloren oder ist mir geklaut worden; in den letzten Monaten bin ich überhäuft worden von Gastfreundschaft, habe neue Freundschaften geschlossen und Länder kennengelernt; nun bin ich kurz davor, nach Hause zurückzukehren, zu meiner geliebten Familie und Freunden. Gibt es einen Menschen auf dieser Welt, der reicher beschenkt ist, als ich?

Mit tiefer Dankbarkeit im Herzen rücke ich der Grenze nach Deutschland immer näher. So ganz nebenbei kommt mir dann auch ein neuer Gedanke bezüglich Europa: Ich kann über Krieg und Frieden in Europa nicht entscheiden, aber ich kann durch mein eigenes Handeln in meinem Umfeld und gegenüber meinen Mitmenschen einen Unterschied machen. Ich kann mich gerade mit meinen Erfahrungen aus den letzten Monaten darum bemühen, zu Verständnis zwischen verschiedenen Kulturen beizutragen. Ich kann mich darum bemühen, meinen Nachbarn zu lieben und ihm zu dienen, anstatt nur nach eigenen Vorteilen zu suchen. Das ist mir selber möglich, den Rest lege ich in Gottes Hände.

Mit dieser Erkenntnis nimmt die Vorfreude noch zu, wieder in die Heimat zu kommen. Ich kann einen Unterschied machen! Also auf in die Pedalen treten und die letzten Kilometer nach Deutschland in Angriff nehmen!

Im Regen über die Grenze

Am Dienstag, den 28. Mai, wache ich ein letztes Mal in Tschechien auf. Der Regen prasselt unaufhörlich auf mein Zelt. Mal wieder muss ich es nass einpacken. Aber das ist nicht schlimm. Ich weiß, dass ich schon bald Dresden erreichen werde und dort bei Freunden übernachten kann. Ich stürze also die letzten Kilometer ins Elbtal hinab und der Grenze entgegen.

Bereits am frühen Mittag erreiche ich sie. Nach 8 Monaten, 11.000 Kilometern und 22 bereisten Ländern bin ich wieder in Deutschland. Ich folge dem Elberadweg, der durch die Sächsische Schweiz führt. Da ich drei Jahre in Dresden studiert habe, war ich hier sehr oft wandern und Fahrrad fahren, zudem führt hier der Oberelbemarathon entlang, den ich zweimal gelaufen bin. Hier kenne ich also wirklich jede Flusswindung und Felswand, es fühlt sich wahrlich an wie „nach Hause kommen“.

Durch den Regen ist nur wenig Betrieb auf dem sonst so stark frequentierten Radweg. Nur ein paar Senioren sind auf Rädern unterwegs, die ich alle freudig mit einem Hallo begrüße. Was für ein Gefühl! Ich bin wieder in einem Land, in dem ich mich mit den Leuten unterhalten kann.

Zwischenstopp in Dresden

In Dresden werde ich bereits von Sue erwartet. Sie und ihr Mann Tobi sind gute Freunde aus meiner Zeit in Dresden. Mittlerweile haben sie drei Kinder und ein Haus gebaut. Dort kann ich zwei Tage übernachten und weitere Freunde besuchen.

Nach der langen Zeit in der Ferne treffe ich also zum ersten Mal auf Freunde, von denen viele regelmäßig meine Reiseberichte gelesen haben. Das ist schon ein seltsames Gefühl: Während ich irgendwo in der Türkei oder im Nahen Osten in einem Café saß und Zeilen in meinen Laptop getippt habe, haben Freunde in Dresden diese Zeilen nicht nur gelesen, sondern auch darüber nachgedacht und nicht wenig behalten. Jetzt kommen wir zusammen und ich erfahre, was sich bei ihnen in der Zwischenzeit so alles getan hat.

Obwohl Dresden für mich ein Stück Heimat ist, ist meine Reise hier noch nicht ganz zu Ende. Es stehen noch weitere 3000 Kilometer bevor. Zunächst werde ich nach Westdeutschland weiterfahren, bevor es dann in die Schweiz hinabgeht – und von dort dann wieder hinauf nach Rügen. Aber dazu später mehr.

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Weitere Fotos gibt’s hier.

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3 Kommentare

Christian Juni 3, 2019 - 05:38

Im Westen nichts Neues… Wie schön ist es da, ein paar Zeilen zum Wochenanfang zu lesen, mitzudenken und mitzufiebern… Auf ein baldiges Wiedersehen!

Antwort
Bikepacking Trans Germany 2019 - Tag Vier - Velospektive August 3, 2019 - 18:08

[…] Reisetagebuch […]

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