Du sollst dir kein Bildnis machen

by Benni
Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist.
Die Bibel, 2. Mose 20,4

Als ich dieses Gebot als Kind hörte, dachte ich mir: Ich soll mir keine Figur schnitzen oder ein Bild malen und es als Gott anbeten – wie einfach! Für dieses Volk in der Wüste war dieses Gebot vielleicht wichtig, ihm ist es wohl schwer gefallen, nicht vor einer Statue niederzufallen und sie anzubeten. Mir fällt dagegen das Gebot, nicht zu lügen oder meine Eltern zu ehren, viel schwerer.

Heute weiß ich allerdings, dass so viel mehr hinter diesem Bildnis-Verbot steht und dass ich es bereits tausendfach übertreten habe.

Ich bin nicht Stiller!

In den letzten Wochen habe ich die abendlichen Stunden nach dem Radfahren damit verbracht, den Roman Stiller von Max Frisch zu lesen. Bei dem Roman handelt es sich im Prinzip um die Gefängnis-Aufzeichnungen von Anatol Stiller – wobei, er selber streitet vehement ab, dass er eben jener Stiller ist. „Ich bin nicht Stiller!“, so beginnt er seine Aufzeichnungen. Er bezeichnet sich als Mister White und will nichts mit diesem Stiller zu tun haben, der seit Jahren als verschollen gilt. Das Problem ist nur, dass alle Freunde und Verwandten diese Person, die da auf einmal wieder aufgetaucht ist, als ihren gut bekannten Stiller identifizieren.

Max Frisch spielt mit Hilfe dieses einfachen Konstruktes mit dem Schein und Sein von Menschen, mit der Frage nach Identität, die man sich selber gibt und die einem von anderen gegeben wird. Da gibt es zum Beispiel diese geniale Szene, in der Stiller (bzw. White) von dem alten Freund Willi Sturzenegger besucht wird. Dieser freut sich riesig darüber, jenen Stiller nach sieben Jahren endlich wieder zu sehen. Er knüpft sofort an ihre alte Beziehung an, ohne wirklich offen für die Person zu sein, die sich da gerade vor ihm befindet. Selbst, wenn es sich tatsächlich um den verschollenen Stiller handeln sollte, könnte es nicht sein, dass dieser sich innerhalb von sieben Jahren geändert hat? Müsste Sturzenegger seinen alten Freund nicht ganz neu kennenlernen, müsste er nicht offen dafür sein, sein Stiller-Bild, das sich über die Jahre entwickelt hat, abzuändern, vielleicht sogar ganz neu zu zeichnen? Stattdessen knüpft er an alte Geschichten an und antizipiert sogar schon die Reaktion seines Freundes Stiller, ohne dass die Person, denen er in die Augen schaut, tatsächlich wie erwartet reagiert. Aber egal, Sturzenegger ist gar nicht davon abhängig, er lacht trotzdem über den Witz, den sein Freund vor sieben Jahren als Reaktion gemacht hätte.

Sturzenegger hat sich ein Bildnis von Stiller gemacht. Dieses Bildnis trägt er mit sich, es hat sich in seine Erinnerung eingebrannt und ist nicht mehr modifizierbar. An anderer Stelle, in seinem eigenen Tagebuch, bemerkt Max Frisch, dass ein solches Bildnis das Ende der Liebe ist:

Es ist bemerkenswert, dass wir gerade von dem Menschen, den wir lieben, am mindesten aussagen können, wie er sei. Wir lieben ihn einfach. Eben darin besteht ja die Liebe, das Wunderbare an der Liebe, dass sie uns in der Schwebe des Lebendigen hält, in der Bereitschaft, einem Menschen zu folgen in allen seinen möglichen Entfaltungen. […] Unsere Meinung, daß wir das andere kennen, ist das Ende der Liebe.

Max Frisch, Tagebuch 1946-1949

Das Lesen von Stiller hat mich neu erkennen lassen, was es mit dem Gebot aus der Bibel eigentlich auf sich hat. Es geht hier nicht einfach um Marmorstatuen und Standbilder, es geht um festgefahrene Vorstellungen in unserem Kopf.

Du sollst dir kein Bildnis von anderen Menschen machen

Wie sehr wir danach verlangen! Wir wollen andere Menschen nicht nur kennenlernen, nicht nur mit ihnen kommunizieren, sehr bald wollen wir über sie Bescheid wissen. Wir streben danach, ein Bildnis von ihnen in unseren Gedanken zu zeichnen. Das gibt uns Sicherheit und den Komfort, uns nicht weiter mit ihnen auseinander setzen zu müssen. Zudem können wir das schnell geschaffene Bildnis entweder verehren, wir sagen dann: „Was ist das für ein toller Mensch! Ich möchte auch gerne so sein“; oder aber, wir werten es ab, erheben uns darüber und sagen: „Dieser Mensch hat hier und dort eine Schwäche, eine schlechte Eigenschaft, ja sogar einen schlechten Charakter. Ich bin besser als er oder sie.“

Ich spreche ganz bewusst von einem Bildnis und nicht von einem Bild. Gegen ein Bild hat auch das biblische Gebot nichts. Ein Bild ist eine Annäherung, ein Versuch, in einer Art Metapher eine Eigenschaft einer Person zu beschreiben. Das Bildnis dagegen ist etwas Abgeschlossenes, etwas in Stein Gemeißeltes, in Holz Geschnitzes. Wenn wir uns Bildnisse von anderen Menschen machen, dann sagen wir, dass sie so und so sind, fertig. Das einmal aufgerichtete Bildnis kann nicht mehr verändert werden, es steht auf festem Sockel und trotzt Regen und Sturm.

Ich glaube, dass gerade deshalb viele Menschen zurückhaltend damit sind, anderen zu begegnen. Sie fürchten, dass diese schon Hammer und Meißel in der Hand halten, um ein neues, grob gehauenes, aber feststehendes Bildnis erschaffen zu können. Sie haben die bittere Erfahrung gemacht, dass ihre Mitmenschen nach nur wenigen Minuten meinen, sie verstanden zu haben, nicht noch mehr Zeit damit verschwenden zu müssen, sie weiter kennenzulernen.

Ein gutes Kennzeichen für Bildnisse im Kopf sind geschlossene Fragen, also Fragen, die die Antwort schon enthalten. Es sind nur vermeintliche Fragen, die wir den anderen da stellen. Eigentlich beschreiben wir das Bildnis in unserem Kopf und rufen zur Bestätigung die bereits bekannten Antworten ab. Wir zwängen den anderen unsere Bildnisse von ihnen geradezu auf. Sie können dann nur noch mit größtem Unwohlsein ein „Ja“ antworten, ein „Nein“ ist bei diesen geschlossenen Fragen gar nicht vorgesehen, geschweige denn eine ausführliche Antwort, die in der Freiheit, eigene Wege gehen zu dürfen, ganz neue Eigenschaften, Ansichten und Gewohnheiten offenbaren würde.

Auch ich fürchte mich davor, dass andere Menschen, ja gerade meine engsten Freunde und Verwandten, Bildnisse von mir errichten. Sie lesen auf meiner Internetseite von meinen Erlebnissen und Reflexionen und bilden sich dadurch eine Meinung über mich. Es ist gefährlich, von den eigenen Gedanken und Empfindungen etwas preis zu geben, man bietet den Mitmenschen damit Baumaterial an.

Doch ich glaube, dass auch im Umgekehrten eine Gefahr liegt: Wir wissen um die menschliche Tendenz, Bildnisse zu errichten und liefern gerne das für uns vorteilhafte Baumaterial. Wir wollen, dass sich die anderen ein Bildnis von uns errichten, und zwar ein gutes, das sie bewundern, erheben und ausstellen. Wenn ich ehrlich bin, ist das eine grundlegende Intention meines Bloggens: Ich will, dass möglichst viele heroische Benni-Statuen in den Köpfen errichtet werden.

Du sollst dir kein Bildnis von anderen Personen-Gruppen machen

Was über die einzelnen Menschen gesagt werden kann, das gilt auch für Personen-Gruppen. Wir sehnen uns nach Klarheit über die anderen, wollen ein deutliches Urteil über unsere Nachbarn, Nachbarländer und Nachbarvölker sprechen und uns damit von ihnen abgrenzen. Für mich war das besonders eindrücklich im Balkan zu beobachten: In Kroatien warnte man mich davor, durch Montenegro mit dem Fahrrad zu fahren, da gäbe es viele kriminelle Menschen. In Montenegro wurde ich herzlich empfangen, man warnte mich allerdings vor Albanien. In Albanien traf ich auf viele nette Menschen, welche mich wiederum vor dem Kosovo warnten. Die Menschen, die ich im Kosovo traf, hätten freundlicher nicht sein können.

Mit dem Bildnis über andere Personen-Gruppen machen wir es uns bequem. Wir meinen bereits, ihre Eigenschaften, Eigenheiten und ihre Kultur zu kennen, was uns davon abhält, ihnen zu begegnen. Und falls es doch zu einer Begegnung kommt, ordnen wir alles in das bereits bestehende Bildnis ein.

Ich nehme mich von dieser Kritik nicht aus. Bevor ich etwa die Türkei betrat, hatte ich bereits ein so starkes und verfestigtes Bildnis von „dem Türken“ im Kopf, sodass ich in erster Linie alle meine Erlebnisse und Erfahrungen in dieses Bildnis einzusortieren versuchte, das gesamte Türken-Bildnis abzureißen und dem Land und seinen Menschen offen zu begegnen, fiel mir schwer.

Falls ich in Regionen komme, deren Bewohner ich noch gar nicht kenne, versuche ich sehr schnell, mir nicht nur ein Bild, sondern eben ein bisher nicht bestehendes Bildnis zu machen. Ich möchte sagen können, dass etwa die Beduinen in Israel und Jordanien typischerweise so und so leben und denken, ich möchte über sie verfügen können, ein Urteil über sie sprechen, das ich anderen vermitteln kann.

Aber ich habe dazu gelernt. In meinem abschließenden Bericht aus Jordanien wollte ich zunächst ein reflektiertes Gesamtbild von „den Jordaniern“ abliefern. Je mehr ich schrieb, desto mehr stellte ich allerdings fest, dass ich mir in vielem gar nicht so sicher war, dass die zwei Monate im Land viel zu kurz waren, um auch nur ansatzweise ein gerechtes Urteil abliefern zu können. Ich entschied mich also dazu, vorrangig einzelne Aspekte, Szenen und Zwiespältigkeiten zu beschreiben. Das ist mir schwer gefallen, ich glaube nämlich, dass ich mit klaren Urteilen und deutlicheren Tendenzen viel mehr Anklang bei den Lesern gefunden hätte.

Du sollst dir kein Bildnis von Gott machen

Ich will hier nicht auf der rein zwischenmenschlichen Ebene bleiben. Auch das anfangs zitierte Gebot tut dies nicht. Ganz im Gegenteil, es fängt sogar mit dem, „was oben im Himmel ist“, an. Das ist kein Zufall. Unser Menschenbild hängt von unserem Gottesbild ab. Die Bibel spricht sogar davon, dass der Mensch das Ebenbild Gottes ist, man kann Gott also zumindest schemenhaft in anderen Menschen wiedererkennen. Machen wir uns ein Bildnis von Gott, so übertragen wir das auf Menschen.

Auch hier gilt, dass es nicht um Bilder, sondern um Bildnisse geht. Bilder sind nicht nur erlaubt, wir brauchen sie sogar, um uns Gott zu nähern. Alleine im Buch der Psalmen werden zig Bilder benutzt, um von und mit Gott zu reden. David vergleicht Gott mit einem sicheren Fels, einem guten Hirten oder einem zerstörenden Hammer. Doch diese Bilder sind eben nur Annäherungen und dürfen keinesfalls zu Bildnissen werden. Dann sind sie wie das goldene Kalb für das Volk Israel in der Wüste, ein verfügbarer Gott, über den nichts mehr unbekannt ist.

Doch Gott ist der ganz andere, unbegreifbare und unverfügbare. Ich glaube und hoffe darauf, dass wir ihn irgendwann einmal „von Angesicht zu Angesicht“ sehen werden (wie es auch die Bibel sagt: 1. Korinther 13,12). Wenn wir Gott klar sehen, werden wir auch unsere Mitmenschen deutlich erkennen können. Bis dahin sollten wir uns immer wieder neu hinterfragen, ob uns Bildnisse leiten und bestimmen, oder ob wir von Liebe geleitet sind, die das Bauen von Bildnissen nicht kennt.

Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin.
Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.
Die Bibel, 1. Korinther 13,12+13
Literaturempfehlung

Max Frisch, Stiller, Suhrkamp 1954.

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