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Seitdem ich wusste, dass ich als Entwicklungshelfer in Dohuk im Nordirak arbeiten würde, habe ich mich auf Radtouren in den Bergen des Iraks gefreut. Als ich dann im August 2020 ausgereist bin, bestand folglich fast die Hälfte meines Reisegepäcks aus zwei Fahrrädern und zusätzlicher Radausrüstung.
Trotzdem hat es ein halbes Jahr gedauert, bis ich endlich auf eine erste Tour aufgebrochen bin. Das hat besonders mit zwei Herausforderungen hier im Nordirak zu tun:
Türkische Bombardierungen
Zum einen bombardiert die Türkei schon seit Jahren Dörfer in den Bergen des Nordiraks, in denen sie PKK-Stellungen vermutet. Diese Bombardierungen haben sich in den letzten Monaten intensiviert, zeitweise gibt es täglich Meldungen über neue Attacken. Die hohen Berge an der türkischen Grenze sind für mich als Radfahrer also im Moment nicht befahrbar.
Landminen überall
Zum anderen ruhen Millionen von Landminen in dieser Region des Nahen Ostens. Die Organisation Demira schreibt:
Der Irak zählt zu den Ländern mit der höchsten Belastung durch Minen und Blindgänger weltweit. Etwa 20 Millionen Landminen und zwischen 2,6 und 6 Millionen Blindgänger liegen weiterhin im Land. Diese sind eine direkte Folge des Krieges mit dem Iran (1980-1988), dem Golfkrieg von 1991 und der US-geführten Invasion 2003.
Ich war schon in einigen Ländern unterwegs, in denen eine Gefahr durch Minen besteht, wie z.B. in Kroatien, im Kosovo oder auch in Israel. In all diesen Ländern ist die Lage dieser Minen jedoch gut dokumentiert. Hier im Irak dagegen habe ich bisher nicht einmal eine Karte gesehen, die auch nur ansatzweise eine Orientierung bieten würde.
Einheimische Radfahrer dringend gesucht
Mir war also schnell klar, dass ich mich nicht alleine auf eine erste Radtour begeben, sondern mit jemanden unterwegs sein wollte, der über gute Ortskenntnisse verfügt. Hier tat sich die nächste Herausforderung auf: In wohl kaum einem anderen Land wird weniger Rad, geschweige denn Mountainbike gefahren, als im Irak.
Bezeichnenderweise ist eine der wenigen Personen, die regelmäßig den Norden des Iraks auf dem Rad erkunden, ein Engländer. Jerry lebt mit seiner Familie seit knapp 11 Jahren im Nordirak und versucht zunehmend, Einheimische für die emissionslose Fortbewegung auf zwei Rädern zu gewinnen. Zu diesen Einheimischen zählen Dr. Azad, ein Lehrer für Sportwissenschaft an der Universität Dohuk, und seine beiden Söhne Pawan und Muhamad.
Mit ihnen habe ich mich nach einem halben Jahr im Nordirak also endlich auf eine erste Radtour getraut.
Anreise mit dem Auto
Wir brechen an einem Donnerstagmorgen auf. Allerdings steigen wir zunächst nicht auf unsere Räder, sondern in unsere Autos. Die Räder ruhen auf den Gepäckträgern. Denn wir sind zwar ambitioniert, unsere Ambitionen genügen aber nicht, um die ersten 15 Kilometer durch die alles andere als fahrradfreundliche Stadt Dohuk zu fahren.
Dem aber nicht genug: Als wir die Stadt hinter uns lassen, fahren wir mit den Autos auch noch einen Bergpass auf 1000 Meter hinauf. Dort erst wollen wir auf die Räder umsteigen und auf einer alten Straße und über unzählige Serpentinen bergab rollen.
Das ist wirklich eine ganz andere Art des Fahrradfahrens, als ich sie eigentlich gewohnt bin. Zum einen versuche ich, von der Haustür aus Radtouren zu starten und nicht erst mit einem Auto anzureisen; zum anderen versuche ich, nicht nur Berge herunter zu rollen, sondern sie auch aus eigener Kraft zu erklimmen.
Aber ich bin gerade zu so ziemlich jedem Opfer bereit, um eine erste sichere Radtour im Irak zu meistern. Außerdem plane ich, den Bergpass später wieder mit dem Rad hochzufahren, während die anderen mit dem Auto zurückfahren wollen.
Flussdurchquerung
Doch schon die Abfahrt verwandelt sich schnell in ein kleines Abenteuer. Auf halbem Weg entscheiden wir uns, von der Hauptstraße in ein Flusstal abzubiegen. Schnell endet hier der asphaltierte Weg, wir kommen vor dem Fluss zum Stehen. Lediglich ein kleiner Trampelpfad führt an diesem Fluss entlang.
Azad und seine beiden Söhne entscheiden, die Räder wieder auf das Auto zu laden, zurück auf die Hauptstraße und auf dieser an das andere Ende des Flusstales zu fahren. Jerry und ich dagegen wollen versuchen, dem Pfad zu folgen und auf ihm das Tal zu durchqueren.
Doch schon nach wenigen 100 Metern endet der Pfad. Wir müssen unsere Räder also tragen, uns durchs Dickicht kämpfen und regelmäßig den Fluss durchqueren. Das ist Bikepacking nach meinem Geschmack!
Das Weiterkommen ist stellenweise so herausfordernd, sodass sich nur selten Menschen hierhin verirren – wie wir besonders an dem nicht existenten Müll erkennen. Da das Wasser hier so klar und sauber ist, nehmen wir uns an einer besonders schönen Stelle, an der der Fluss ein natürliches Becken geformt hat, sogar Zeit zum Schwimmen.
Peshmerga-Soldaten und Öltanker
Nach etwa zwei Stunden kommen Jerry und ich zwar nass und von Dornen gezeichnet, insgesamt aber doch heil und glücklich ans Ende des Flusstals. Dort erwarten uns Azad, Pawan und Muhamad. Mit ihnen setzen wir die Reise – jetzt wieder auf Asphalt – fort.
Wir biegen auf eine Straße ab, die uns durch eine recht flache Ebene und an dem Fluss Gomel entlang führt. Auch diese Straße ist recht verkehrsarm, aber schon deutlich befahrener, als die Passstraße zuvor. Besonders oft werden wir von großen Lkws überholt, die Öl transportieren. Ganz in der Nähe gibt es nämlich zwei große Ölförderanlagen.
Das ist wohl auch der Grund für die besonders starke Militärpräsenz entlang dieser Straße. Die Peshmerga-Soldaten sind uns ungewöhnlichen Radfahrern aber allesamt sehr wohlgesonnen und winken uns zu. An einem Checkpoint werden wir neugierig befragt und dann fröhlich durchgelassen.
Mit Radshorts vor dem jesidischen Heiligtum
Hinter dem Checkpoint biegen wir auf eine Straße ab, die einen weiteren Bergpass hinaufführt. Jerry steigt mit den beiden Jungs wieder auf das Auto um, während Azad und ich bei den Rädern bleiben. Wir kämpfen uns zusammen mit langsam fahrenden Öltankern Serpentinen hinauf. Das Herz pumpt, die Lunge brennt – wie wunderbar, endlich wieder so mit dem Rad unterwegs sein zu können!
Als wir auf dem Bergpass alle wieder zusammenkommen, realisieren wir, dass wir nur einen Kilometer von Lalisch entfernt sind. Bei diesem kleinen Dorf handelt es sich um einen heiligen Ort und das Zentrum der jesidischen Glaubenspraxis. Ich hatte ihn schon oft in Dokumentationen gesehen, jesidische Freunde aus den Flüchtlingscamps, in denen ich arbeite, haben mir von ihm erzählt.
„Da fahren wir hin!“, schlage ich euphorisch vor. Die anderen widersprechen nicht. Ich nehme mir aber vor, nur kurz vor den Toren von Lalisch halt zu machen. Schließlich trage ich nur Radshorts. Außerdem begeht man Lalisch führ gewöhnlich barfuß. Das alles nehme ich mir für ein anderes Mal vor, sollte ich mal mit dem Auto hier sein.
Als wir dann aber alle vor dem Eingang zum Heiligtum ankommen, erscheint aus dem Nichts der Babê Çawiş, einer der höchsten religiösen Führer der Jesiden und der Hüter von Lalisch. Er erkundigt sich bei den Sicherheitsleuten, wer denn diese Radfahrer seien. Als jene ihm sagen, dass unter diesen ein Deutscher sei, wendet er sich kurzerhand an mich: „Foto machen!“ Offensichtlich hat er durch einige Deutschlandbesuche etwas Deutsch gelernt.
Da stehe ich also – als einziger mit Schuhen und generell beschämt auf Grund meiner unpassenden Radkleidung – und posiere für ein Foto vor dem Heiligtum mit seinem Hüter. Immerhin bin ich jetzt um eine Geschichte reicher, die ich direkt am nächsten Tag meinen jesidischen Freunden erzählen werde.
Wer alleine reist wird öfter angesprochen
So schnell der Babê Çawiş erscheint, so schnell ist er nach dem Foto auch wieder verschwunden. Und auch ich breche schnell auf, bevor noch weitere Leute Fotos machen wollen. Meine vier Radgenossen wollen sich Zeit für die Erkundung von Lalisch nehmen.
Mit 50 Kilometern pro Stunde sause ich die Passstraße wieder runter und fahre anschließend durch die Flussebene zurück. Alleine unterwegs zu sein ist wirklich etwas ganz anderes, ich fühle mich an meine große Reise vor zwei Jahren erinnert: Ähnlich wie in Jordanien, der Türkei oder Georgien werde ich auch jetzt als einsamer Fahrer von vielen Leuten angehalten und angesprochen.
Nach einigen Kilometern auf der Ebene überholt mich zum Beispiel ein alter, knattriger Opel und hält vor mir an. Es steigt ein euphorischer Vater mit Sohn und Tochter aus und erkundigt sich nach Start und Ziel meiner Reise. Wir schießen einige Fotos, mein Reisegewicht erhöht sich zudem durch eine Tüte voll Pistazien.
Die Zurückhaltung der Kurden
Insgesamt sind die Leute hier aber trotzdem deutlich verhaltener, als in Jordanien oder auch der benachbarten Türkei. Während in jenen Ländern jeder LKW und jeder zweite Autofahrer einem Radfahrer wie mir zu hupt, passiert das hier nur ganz selten. Leute am Straßenrand schauen zwar alle neugierig, nur wenige rufen aber etwas. Die Araber in Jordanien oder die Türken scheinen mir da deutlich extrovertierter.
Woran das wohl liegt?, frage ich mich, als ich die letzten Kilometer zu meinem Auto die Passstraße wieder hochstrample. Man sagt Volksgruppen, die in Bergen zu Hause sind, eine gewisse Zurückhaltung nach. Die Kurden leben traditionell in den Bergen im Osten der Türkei, im Norden von Syrien und dem Irak und im Westen des Iran. Oder hängt ihre Zurückhaltung doch eher mit ständiger Unterdrückung und dem Dasein als Minderheit zusammen?
Welchen Ursprung diese Zurückhaltung auch immer haben mag, als Radfahrer fühle ich mich richtig wohl mit ihr. Die Herzlichkeit der Menschen ist Motivation und bringt mich immer wieder zum Lachen, trotzdem kann ich heute viele Kilometer am Stück fahren, ohne dauernd angehalten zu werden.
Kurz vor Sonnenuntergang erreiche ich mein Auto und den Bergpass, den Ausgangspunkt unserer heutigen Tour. Neben meinem Auto park ein weiteres, aus dem sofort ein Ehepaar aussteigt. Woher ich denn käme, wohin ich jetzt fahre? Sie drücken mir drei Kekspackungen in die Hand.
Was für ein wunderbarer Tag auf dem Rad! Er macht mir Mut, in nächster Zeit regelmäßig den Nordirak auf dem Fahrrad zu erkunden.
Weitere Fotos gibt’s hier.