Die Freiheit eines Radreisenden

by Benni

Seitdem ich im September 2018 auf große Radreise aufgebrochen bin, bin ich frei von so manchen Dingen.

Befreit von Besitz

Da wäre zum Beispiel mein Besitz. Kurz vor Abreise habe ich alle Freunde zu einer Abschiedsfeier eingeladen, bei der ich fast alles, was ich zu dem Zeitpunkt besaß, verschenkt oder verkauft habe. Übrig geblieben sind lediglich einige Bücher, zwei Koffer und ein paar weitere Taschen voll essentiellen Dingen, von denen ich mich nicht trennen wollte. Das war ein befreiendes Gefühl! Mein Besitz lässt sich jetzt in einem Kleinwagen transportieren.

Mein Besitz in zwei Koffern und ein paar Taschen

Die Sachen lagern im Moment bei meinem Bruder. Ich trage etwa 15 Kilo Gepäck an meinem Fahrrad. Das ist alles, was ich brauche, um mehrere Jahre unterwegs zu sein. Zugegeben – es ist eine recht spartanische Packliste, ich muss zum Beispiel regelmäßig meine Kleidung waschen, weil ich nur drei T-Shirts dabei habe. Doch letztendlich empfinde ich auch das wenige Gepäck an meinem Fahrrad als Freiheit. Laufe ich zum Beispiel durch eine Stadt und an Geschäften vorbei, dann komme ich gar nicht erst auf den Gedanken, mit irgendetwas zu kaufen. Die Taschen sind voll, ich habe alles dabei, was ich brauche.

Befreit von Terminen

Auch zeitlich fühle ich mich frei. War mein Terminkalender noch vor zwei Monaten täglich gut gefüllt, so besitze ich jetzt gar keinen mehr. Meine Armbanduhr – ich trage seit dem zehnten Lebensjahr eine – habe ich verschenkt. Die Uhrzeit ist nur noch in einzelnen Fällen relevant für mich, etwa, wenn ich eine Fähre nicht verpassen will oder nicht vor einem geschlossenen Supermarkt stehen möchte. Ansonsten richtet sich mein Lebensrhythmus jetzt nach der Sonne: Geht sie auf, startet mein Tag, geht sie unter, suche ich mir einen Zeltplatz.

Ganz bewusst habe ich mir keine feste Route vorgenommen, um nicht an einen Zeitplan gebunden zu sein. Fragen mich Leute, wo ich als nächstes hinfahren möchte, dann nenne ich immer einen Ort oder ein Land und füge hinzu: „Aber mal sehen, was auf dem Weg so passiert. Vielleicht führt mich der Weg doch ganz woanders hin.“ Einzig die Jahreszeiten schränken mich ein wenig ein. Im September musste ich möglichst bald die Alpen überqueren; jetzt, im November in Griechenland, zieht es mich weiter gen Süden, weil es auch hier bald recht kalt wird.

Befreit für Begegnungen

Insgesamt hat die relative zeitliche Ungebundenheit hat für mich den besonderen Vorteil, dass ich mich ganz anders auf Menschen einlassen kann. Ich erinnere mich, dass ich in den letzten Jahren immer wieder „auf heißen Kohlen saß“, wenn ich mich unterhielt. Ich versuchte mich ganz auf mein Gegenüber einzustellen, hatte aber im Hinterkopf eine To-Do-Liste, die ich an diesem Tag noch abarbeiten wollte. So war ich oft froh, wenn das Gespräch ein Ende fand, wenn ich es vielleicht sogar selbst elegant beenden und mich den noch anstehenden Aufgaben zuwenden konnte. Ich stand also ständig unter Strom, entspannte Gespräche – besonders ungeplante – hatten seltenst Platz.

Übrigens stelle ich im Moment fest, dass mich dieser Lebensstil der letzten Jahre immer noch sehr stark prägt. So kommt es vor, dass ich mir ein Tagesziel setze und diesem so verbissen entgegen fahre, dass ich erneut wenig offen für andere Menschen bin. Ergibt sich dann doch ein Gespräch, ertappe ich mich immer wieder selbst dabei, wie ich innerlich unruhig werde, ich will ja schließlich mein Tagesziel erreichen. Doch wozu hetzen?, frage ich mich dann selbst. Das Tagesziel kann auch noch am nächsten Tag erreicht werden. Die Entspanntheit der Südeuropäer hilft sehr dabei, diesen innerlichen Druck abzulegen; gerade zur Mittagszeit sitzen sie stundenlang in Cafés und plaudern miteinander, ohne das Wort „Terminkalender“ überhaupt zu kennen zu scheinen.

Zeit für Begegnungen am Wegesrand

Neue Unfreiheiten

Neben all diesen neu gewonnen Freiheiten ergeben sich allerdings auch neue Einschränkungen. So ist der Vorteil, mit wenig Stauraum und Gepäck unterwegs zu sein, mit dem Nachteil erkauft, ständig Essen kaufen zu müssen. Und wer den ganzen Tag mit dem Fahrrad unterwegs ist, nimmt viel Essen zu sich! Ich muss also immer planen, wo ich etwas zu essen kaufe, ob ich in einem Restaurant esse oder in einem Supermarkt einkaufe, ob ich nur für die nächste, oder für die nächsten drei Mahlzeiten einkaufe usw. In Regionen, in denen sich ein Supermarkt neben den anderen reiht, ist dies natürlich einfach; in einsamen Gegenden ist dagegen vorausschauendes Planen von Nöten. Welche Freiheit bietet im Gegensatz dazu ein fester Wohnsitz mit einem Küchenschrank!

Mit dem ständigen Übernachten im Zelt erspare ich es mir zwar, eine Wohnung zu mieten, doch auch die tägliche Suche nach einem passenden Zeltplatz ist mit viel Aufwand und Stress verbunden. In manchen Regionen ist auch das recht entspannt; in einsamen Gegenden kann man fast überall sein Zelt aufstellen; im Moment finde ich an der von Touristen verlassenen griechischen Küste viele geschlossene Bars und Cafés, unter dessen Vordächer ich die letzten Nächte geschlafen habe. Doch manchmal lässt sich einfach kein passender Ort finden. Da ist es schon vorgekommen, dass ich in die Nacht hineingefahren bin, mit jeder Minute unruhiger wurde und mich gefragt habe: „Wo soll ich hier bloß mein Zelt aufschlagen?“ Welche Freheit bietet da die feste Wohnung und das gemütliche Bett!

Einen Ort zum Übernachten zu finden ist nicht immer einfach

Insgesamt wird also deutlich: Absolute Freiheit und Ungebundenheit gibt es nicht. Das scheint mir eine wertvolle Erkenntnis in einer Zeit, in der so viele Menschen besonders meiner Generation nach der Freiheit streben. Denjenigen, die meinen Lebensstil also auf Grund der „absoluten Freiheit“ beneiden, sei gesagt: Meine Freiheit auf zwei Rädern ist mit sehr viel Einschränkung verbunden. Denn wer sich von etwas frei macht, der bindet sich unumgänglich an etwas neues.

Frei und doch versklavt

Die größte Unfreiheit habe ich bisher nicht erwähnt, die bin ich selbst. Je mehr ich auf mich selbst zurückgeworfen und mit mir selbst konfrontiert werde, desto mehr muss ich das einsehen: Ich habe einen hohen moralischen Anspruch an mich selbst, werde diesem aber nicht einmal ansatzweise gerecht. Paulus von Tarsus, dessen Spuren ich in Griechenland gerade folge, hat das in schlichter, aber doch sehr treffender Weise ausgedrückt:

Ich tue nicht das Gute, das ich will, sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich.

Paulus von Tarsus in der Bibel, Römer, Kapitel 7, Vers 19

Das ist ein Gesetz, das gilt, ich bin daran gebunden, so frei ich auch von äußeren Umständen sein mag. Ich begehe immer wieder Fehler, falle immer wieder in alte Verhaltensmuster zurück. So lange ich Mensch bin, bleibe ich gebunden, ich bleibe ein Sklave meiner selbst.

Das macht mir deutlich, dass mein höchstes Lebensziel nicht sein sollte, von allen äußeren Umständen befreit zu sein, um nur noch ich selbst sein zu können, nur noch auf mich selbst angewiesen zu sein. Was für ein trostloses Leben wäre das! So paradox es zunächst auch scheinen mag: Es sollte mein Ziel sein, mich ganz von etwas abhängig zu machen, mich ganz an etwas zu binden, das diese Bindung verdient. Es müsste etwas – oder besser gesagt jemanden – geben, der vollkommen gut und vollkommen gerecht ist; mich vollkommen an so jemanden zu binden, das wäre so etwas wie vollkommene Freiheit.

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