Mein zweiter Orbit. Diesmal geht‘s 277 Kilometer und gut 2500 Höhenmeter durch Sachsen-Anhalt. Ich übernachte an einem See nördlich von Magdeburg und direkt an der Route. Am Morgen um 6 Uhr bin ich startklar – auf geht‘s!
Mittellandkanal, Hebewerk und Elbe
Ich folge dem Mittellandkanal, der mich direkt zu einem riesigen Schiffshebewerk führt. Hier können die Schiffe wählen, ob sie sich mit dem Hebewerk auf Elbniveau absenken lassen und auf den Fluss abbiegen, oder dem Kanal folgen und die Elbe auf diesem überqueren wollen.
Der Track folgt weiter dem Kanal. Auch dieser ist ein beeindruckendes Bauwerk. Hier, so kurz vor der Elbe, wird das Wasser ein paar Meter über der Erde in einer Art Wasserbrücke geführt. Die Route sieht eigentlich vor, dass man an der rechten Seite dieser Brücke fährt, allerdings ist diese heute gesperrt. Ich muss also einmal den Kanal mit seinem ganzen Wasser unterqueren, auf der anderen Seite komme ich über die Elbe.
Hier geht‘s auf dem Elberadweg nach Magdeburg hinein. Je näher ich der Stadt komme, desto mehr Leute treffe ich – vermutlich alles Berufspendler auf dem Weg zur Arbeit. So schön ich Magdeburg finde, ich bin froh, als ich die Stadt hinter mich lasse und die Magdeburger Börde erreiche.
Durch die Börde
Ab hier geht‘s mehr oder weniger immer gen Westen und in Richtung Brocken. Die Route beschreibt sich also ganz einfach: Man startet in Magdeburg, kämpft sich 140 Kilometer zum Brocken hinauf und fährt dann wieder – etwas weiter nördlich – zurück.
Mir gefällt‘s – irgendwie gibt einem das so eine ganz klare Tagesstruktur vor: Erstes Zwischenziel Brocken – möglichst nicht allzu spät am Nachmittag; zweites Ziel Magdeburg – möglichst nicht allzu spät abends. Dazwischen gibt‘s ganz viel Schotter, Platte, Pflasterstein, Sand und auch immer wieder Asphalt, allerdings keine allzu hohen Berge.
Hinter Magdeburg treffe ich also auf die ersten Schotterpisten, allerdings auch auf viel Gegenwind. Axel Gehrbrandt, der Scout der Strecke, hatte das sogar auf der Routenbeschreibung so beschrieben. Aber kommt hier wirklich täglich so viel Wind aus westlicher Richtung? Zumindest die vielen Windräder, die alle gen Westen ausgerichtet sind und sich kräftig drehen, zeugen davon.
Den Brocken im Blick
Trotz Wind komme ich relativ gut voran. Die meisten Wege fahren sich super. Das ist mal was für „Gravelboys“, also jene, die bei vielen Trails und steilen Anstiegen zu fluchen beginnen! Ich bin hier mit meinem Mountainbike sicher etwas zu schwer und zu wenig windschnittig unterwegs. Aber dafür hab ich‘s komfortabel.
Nach etwa 50 Kilometern sehe ich zum ersten Mal in der Ferne den Brocken, den „Blocksberg“, die höchste Erhebung ganz Norddeutschlands. Da geht‘s also gleich rauf. Man sollte sich aber nicht durch den freien Blick verführen lassen. So schnell es hier nämlich auch langgehen mag, der Track führt einen halt trotzdem die ein oder andere Windung entlang und Erhebung hinauf.
Ich zwinge mich also selber dazu, nicht allzu häufig auf den Berg in der Ferne zu blicken, sondern mich auf das Hier und Jetzt zu fokussieren. Das ist nämlich auch nicht zu verachten.
Das unbekannte Sachsen-Anhalt
Sachsen-Anhalt ist eines der Bundesländer, die ich nur sehr wenig kenne. Und gerade diese Ebene, über die ich jetzt geführt werde, würde man für gewöhnlich wohl umfahren. Aber trotzdem treffe ich auf einige schmucke Dörfer und Kleinstädte, die solch einen besonderen, fast „hinterweltlerischen“ Charme ausstrahlen.
Die Architektur erinnert mich ein wenig an Siebenbürgen in Rumänien. Und auch die vielen alten, eingefallenen Häuser könnten so am Fuße der Karparten stehen. Zwischen all diesen alten, halb verlassenen Dörfern sehe ich außerdem immer mal wieder alte Industrieanlagen. Außerdem überquere ich andauernd stillgelegte Bahnschienen, während der gesamten Strecke mindestens zehn an der Zahl. Hier muss also zu DDR-Zeiten, vielleicht aber auch davor wirtschaftlich einiges los gewesen sein.
Hinauf zum Brocken
Am frühen Nachmittag erreiche ich Elbingerode. Hier bin ich bereits Mitten im Harz. Von hier geht‘s nur noch bergauf zum Brocken. Ab Schierke folge ich sogar einer 1a-geteerten Straße, in einigen Serpentinen und mit ziemlich gemächlicher Steigung geht‘s kontinuierlich bergauf.
Viel herausfordernder als diese gemächliche Steigung sind die vielen Wanderer auf der Straße. Ich wusste ja schon, dass der Brocken gut besucht ist, aber so gut? Mit jedem Kilometer, dem ich dem Gipfel näher komme, nimmt die Wandererdichte zu. Zum Schluss muss ich wirklich Slalom fahren – unglaublich!
Mal wieder fühle ich mich bei dem Blick auf all diese Wanderer so besonders und heroisch. Schließlich bin ich schon 130 Kilometer gefahren, fahre jetzt noch mal eben den Brocken hoch und anschließend wieder über Stock und Stein nach Magdeburg zurück, während diese Menschen hier nur läppisch den Brocken hochspazieren, teilweise sich sogar den größten Teil der Strecke mit der Brockenbahn fahren lassen.
Demütig bleiben
Oh, dieser Hochmut, diese Arroganz! Komm mal ganz schnell von deinem hohen Ross runter, Benni. So besonders und verwegen bist du jetzt auch nicht. Und selbst die Tatsache, dass nur wenige so große Distanzen mit dem Fahrrad überwinden, sollte mich nicht stolz machen. Stolz ist immer eine Sache des Vergleiches.
Ich muss an Raphael Albrecht denken, einen der Organisatoren vom Orbit 360. Er ist letztens nicht nur diesen Orbit gefahren – in einer Zeit, die für mich im Moment unerreichbar ist, in 13 Stunden und 30 Minuten – sondern hat hier am Brocken kurz davor noch einen „Everesting“ unternommen. Bei solch einem Everesting versucht man, während einer Fahrt 8848 Höhenmeter zu überwinden. Raphael musste also 18 mal diese Straße hoch- und runterfahren. Wie ärmlich meine Leistung dagegen!
Auf dem alten Betonplattenweg bergab
Auf dem Brocken selber ist ebenfalls so viel los, sodass ich nicht das Bedürfnis verspüre, mich hier lange aufzuhalten – obwohl ich noch nie hier war. Ich lasse ein kurzes Beweisfoto schießen, dann geht‘s schon wieder hinab.
Bergab führt mich der Track auf der anderen Seite des Berges. Hier gibt‘s allerdings keine geteerte Straße, sondern einen alten Betonplattenweg. Der ist nicht nur alt und holprig, sondern auch extrem steil. Mit angezogenen Bremsen sause und holpere ich also hinab. Hier bin ich besonders dankbar für meine Federung.
Bei dem Weg handelt sich um den ehemaligen Patrouillenweg der DDR-Soldaten. Der Brocken war nämlich bis zur Wende militärisches Sperrgebiet, in seiner unmittelbaren Nähe verlief die innerdeutsche Grenze. Ich kenne die Geschichte dazu ganz gut, da ich in letzter Zeit viel über die Grenzsteintrophy gelesen habe – ein Fahrrad-Event, das dieser innerdeutschen Linie von der deutsch-tschechischen Grenze bis hinauf an die Ostsee folgt. Auf diesem Event fährt man die meiste Zeit auf solchen Lochplatten. Ich bin dankbar, dass ich nach nur wenigen Kilometer wieder gen Osten abbiege.
Im Flow und mit Rückenwind zurück nach Magdeburg
Hinter der Eckertalsperre, an der ich das erste und einzige Mal Wasser nachtanke, führt der Track allerdings erneut an die ehemalige Grenze. Er folgt für einige Kilometer dem kleinen Fluss Ecker, der damals die Grenze bildete. Einzelne Steine am Ufer des Flusses weisen noch darauf hin.
Danach geht es aber wirklich gen Osten, also hinaus aus dem Harz und zurück nach Magdeburg. Den Brocken habe ich jetzt im Rücken, mit jedem Kilometer wird er wieder kleiner. Und ich habe den Wind im Rücken – zuerst gegen den Wind zu fahren, dann mit ihm, ist in jedem Fall zu bevorzugen.
Je öfter ich meine Touren schriftlich festhalte, desto mehr wird mir bewusst, dass mir die letzten Stunden viel schwacher in Erinnerung bleiben, als die ersten. Man befindet sich am Ende eines solchen Tages – negativ formuliert – im Delirium bzw. – positiv formuliert – im Flow.
Ich erinnere mich an unzählige Felder, Wälder und Wiesen, über die ich stundenlang zurück nach Magdeburg gejagt bin. Und ich erinnere mich an den Blick auf das Navi: Noch 100km, noch 75, noch 50… Viel mehr gibt es hier nicht mehr zu berichten.
Fahrt gegen die Zeit
Außer vielleicht, dass ich mit dem Blick auf das Navi zu rechnen beginne: Noch 50 Kilometer, ich könnte es bis kurz vor 21 Uhr zurück an den Startpunkt schaffen und so diesen Orbit in unter 15 Stunden finishen. Also auf geht‘s! Solche Rechenspiele geben mir auf den letzten Kilometern nochmals Energie.
Just in dem Moment zischt es dann aber mal wieder aus meinem Hinterreifen. Mist, erneut ein Durchstich! Dank meiner jüngsten Erfahrung auf dem Westwall-Divide und dank der dortigen belgischen Hilfe weiß ich allerdings jetzt genau, was zu tun ist: Beherzt die „tubeless-Salami“ in den Reifen rammen! Hält. Also weiter geht‘s. Nur die 15 Stunden werde ich jetzt knapp nicht unterbieten.
Am Ziel- und Startpunkt
Die letzten Kilometer geht‘s wieder am Mittellandkanal entlang. Hier kann ich nochmals ordentlich Tempo machen. Nach 15 Stunden und 2 Minuten erreiche ich meinen Start- und Zielpunkt. Der zweite Orbit ist geschafft!
Fazit zum Sachsen-Anhalt-Orbit
- Dieser Track ist wirklich klasse gescoutet! Außer der Sperrung ganz am Anfang musste ich keinerlei Umwege nehmen.
- Vor der Eckertalsperre gibt‘s einen sehr holprigen Wanderweg, der mit dünnen Reifen wehtut und besser geschoben wird. Vor diesem Teilstück wird allerdings ausdrücklich in der Routenbeschreibung gewarnt.
- Ansonsten ist die gesamte Route wunderbar mit einem Gravelbike auf relativ dünnen Reifen zu überwinden. Wer hier eine sehr gute Zeit fahren will, sollte sogar zu einem solchen Rad greifen!
- Ich war auf den vielen Plattenwegen und Kopfsteinpfasterpassagen trotzdem glücklich mit meinen breiten Reifen und meiner Federgabel. Aber natürlich kostet dieser Komfort Zeit.
- Viele Passagen zwischen Brocken und der Landeshauptstadt mögen auf Dauer etwas langweilig sein. Aber mir hat diese gewisse Einöde und zusätzlich das Zufahren auf den Brocken und später auf Magdeburg gefallen.
Danke an Axel Gehrbrandt für diese sehr schöne Route!