Als ich im Mai nach einem langen Tag im Sattel irgendwo in Bulgarien im Zelt lag, überkam mich auf einmal eine Idee: Bald schon würde ich wieder in Deutschland sein, im Juli würde ich es nochmals mit der Bikepacking Trans Germany versuchen, wieso nicht im August an noch einem Bikepacking-Event teilnehmen?
Sofort fiel mir dafür der Eifel Graveller ein. Holger Loosen hatte kräftig für dieses von ihm neu aus dem Boden gestampfte Event Werbung gemacht, außerdem kannte ich die Eifel bereits von einer Wanderung – richtig schön die Gegend! Ich griff also kurzerhand zum Laptop und meldete mich an.
Seit dieser spontanen Entscheidung in Bulgarien ist viel passiert, ich habe meine große Reise beendet, bin die BTG gefahren, bin mehr oder weniger wieder in den europäischen Gefilden und der westlichen Kultur angekommen. Das Fahrrad blieb dabei stets mein Gefährt(e), seit Juni fahre ich es kreuz und quer durch Deutschland und die Schweiz.
So machte ich mich Mitte August erneut auf, fuhr zunächst den Rhein hinab bis nach Worms, besuchte dort Freunde, die ich in Amman kennengelernt hatte, fuhr anschließend den Rhein wieder hinauf bis nach Koblenz und bog dort zum ersten Mal in meinem Leben auf den Moselradweg ab. Nach 50 Kilometern erreichte ich das Örtchen Klotten, den Ausgangspunkt des Eifel Gravellers. Es war Samstag, der 24. August, 17 Uhr. Das Vorabtreffen hatte gerade begonnen. Hier beginnen meine Aufzeichnungen.
Erste Begegnungen
Noch bevor ich den Gemeindesaal erreiche, begegnet mir ein anderer Bikepacker. Dieter van der Wijst lädt gerade sein Bike aus dem Auto und erzählt mir sofort fröhlich über seine Teilnahme beim diesjährigen Taunus Bikepacking. Er habe dort wegen Schmerzen aufgeben müssen, jetzt wolle er einfach ans Ziel kommen.
So läuft das bei solchen Veranstaltungen – das Gesprächsthema ist vorgegeben, man kommt sofort mit allen möglichen Leuten ins Gespräch.
Als ich dann das Gemeindehaus betrete, setzt sich das nur fort. Ich treffe auf Eike Lohlies, den kenne ich bereits von der BTG 2018. Zusammen sind wir da den ersten Anstieg zum Hohen Randen hochgefahren, ich war ziemlich durch, Eike hat mich hochgetragen. Schön, dass wir uns hier wiedersehen!
Der Vater der Veranstaltung
Ich gehe weiter zur Anmeldung, noch ist es ruhig, es stehen nur wenige Fahrer an. Bevor ich mein Startschild und meinen GPS-Tracker in den Händen halte, begrüßt mich Holger Loosen. Endlich lerne ich auch ihn kennen! Er ist einer dieser Leute, die ich seit einem Jahr über das Internet kenne. Nachdem ich die BTG 2018 abgebrochen hatte, habe ich gespannt seinen Spurt nach Rügen verfolgt. Anschließend ist er immer wieder bei Bikepacking-Events an den Start gegangen, ich konnte regelmäßig seinem Punkt auf der Landkarte unter Follow My Challenge folgen.
Als ich ihm im Mai schrieb, um mich anzumelden, kam nicht einfach eine standardisierte Email zurück, sondern er stellte Fragen zu mir und erzählte direkt viel von sich. Schon ab da war mir klar: Er schätzt das Bikepacking, um mit anderen Leuten in Kontakt zu kommen. So ist auch der Eifel Graveller alles andere als eine Pflicht oder gar etwas, mit dem er Geld verdient, sondern ein persönliches Anliegen, ja sogar eine Leidenschaft, mit der er einen enormen Teil seiner Zeit in den letzten Monaten verbracht hat. Das merkt man ihm auch heute an: Fröhlich begrüßt er jeden Teilnehmer und jede Teilnehmerin, kümmert sich um alle möglichen Anliegen und Mitarbeiter.
Bikepacking-Stimmung
Nachdem ich den Tracker in meinen Taschen versorgt und das Startschild am Lenker befestigt habe, widme ich mich dem Essen. Auch hier hat Holger und sein Team beeindruckendes geleistet: Man musste nur was zum Trinken und für den Grill mitbringen, für Salate, Brot und alles mögliche andere haben die Klottener gesorgt. Ich nutze das reichhaltige Angebot, um ordentlich meine Kohlenhydratspeicher aufzufüllen.
In der Zwischenzeit kommen viele weitere Teilnehmer an, so langsam füllen sich das Gemeindehaus und besonders die Bierbänke davor. Mal wieder herrscht diese unvergleichliche Bikepacking-Stimmung: Alle suchen das Gespräch, jeder hat Geschichten zu erzählen. Es geht viel um Technik und Ausrüstung, immer wieder sammeln sich Gruppen um die einzelnen Räder, die wie ein Rahmen um uns Teilnehmer aufgestellt sind.
Was mir besonders gefällt, ist diese Mischung aus ambitionierter Sportlichkeit und geselligem Beisammensein. Oft hat man nur das eine: Da treffen sich Leute auf Bierbänken, versuchen dem Namen ihrer Sitzgelegenheiten gerecht zu werden und kippen sich ein Hopfengebräu nach dem anderen rein. Oder aber, es treffen sich Sportler, die so ehrgeizig und fokussiert sind, dass da kein Platz für ein Gespräch mit einem Mitsportler, geschweige denn für ein Bier bleibt.
Nicht so heute abend: Es liegt eine gewisse Grundanspannung in der Luft, alle sind heiß darauf, morgen ordentlich in die Pedalen zu treten; trotzdem nimmt sich keiner komplett raus, kümmert sich nur um sein Bike, seine Ausrüstung und sein Essen.
Aus Social Media wird Real Life
Ich komme mit allen möglichen Leuten ins Gespräch und versuche mir ihre Namen zu merken, um später die Punkte auf der Live-Karte mit einem Gesicht verbinden zu können. Einige neue Bekanntschaften kennen mich bereits über meinen Blog und meine Beschreibung der BTG. Unter ihnen sind Olaf Flechtner – er hatte immer wieder über Facebook geschrieben – und Christian Burkhardt. Es ist immer wieder ein tolles Gefühl, wenn aus Social-Media-Bekanntschaften Begegnungen von Augen zu Augen werden.
Zudem lerne ich Jochen Kleinhenz, Organisator des Main-Franken-Gravellers, Andrew Grau, Organisator des Vosges2BlackForrest, und Bernd Rücker und Daniel Rausch, Organisatoren des Bikepacking Franconia kennen – man sieht, diese Veranstaltungen schießen mittlerweile wie Pilze aus dem Boden, die Organisatoren kennen sich untereinander und besuchen gegenseitig ihre Veranstaltungen. Auch Jesko von Werthen, der Organisator des Taunus Bikepacking und zudem Finisher des Transcontinental Race 2019, trifft später noch ein.
Ambitionierte Pläne
Geselligkeit hin oder her – besonders spannend sind heute Abend die Begegnungen mit Fahrern, die morgen ebenso wie ich zügig an den Start gehen wollen. Lange unterhalte ich mich zum Beispiel mit Daniel Rausch. Er hat sich Tipps von dem momentanen Überflieger der deutschen Bikepacking-Szene Christian Beyer geholt und daraufhin die Fahrt durch die Eifel akribisch geplant. Eine Tabelle zeigt ihm genau, wann er wo und wie lange halten soll. Damit will er den Kurs (im Idealfall) in unter zwei Tagen abfahren.
Zwei Tage? Das scheint äußerst ambitioniert. Daniel will dafür nur in der ersten Nacht vier Stunden lang schlafen, die zweite Nach will er durchfahren. Ich komme mir auf einmal ganz kleinlaut vor. Einigen Leuten hatte ich im Vorfeld gesagt, dass ich es in unter drei Tagen schaffen möchte. Ein Freund aus Basel meinte außerdem, er würde mich auf eine Pizza einladen, wenn ich es in unter zwei Tagen und 14 Stunden, also vor Mittwoch um 0.01 Uhr schaffen würde. „Das wird sehr schwer werden“, hatte ich ihm geantwortet. Aber ich wollte es trotzdem als Möglichkeit im Auge behalten.
„Was machst du, wenn du von deiner Planung abweichst?“, frage ich Daniel. Mir scheint das besonders bei den heißen Temperaturen, die für die nächsten Tage vorhergesagt sind, wahrscheinlich. „Dann weiß ich zumindest, wo ich essen und schlafen kann“, gibt er zur Antwort. Er wirkt ganz zuversichtlich.
Eigentlich liebe ich es auch, zu planen und Dinge, auf die ich mich einlasse, sorgfältig vorzubereiten. Allerdings weiß ich von der BTG, dass solch eine lange Fahrt ihre eigenen Dynamiken mit sich bringt. Im Vorteil ist nicht nur, wer gut geplant hat, sondern auch, wer sich auf neue Umstände einstellen kann. Meine einzige Routenplanung bestand deshalb darin, mir alle größeren Orte, in denen ich Essen finden würde, aufzuschreiben. Der Rest gibt sich, so dachte ich mir. Schlafen kann ich bei trockenen Bedingungen sowieso so ziemlich überall.
Nach dem Gespräch mit Daniel bin ich allerdings etwas verunsichert. Ich überlege kurz, ob ich doch nochmal die Strecke auf der Karte abgehen, mir Supermärkte, Bäckereien und ihre Öffnungszeiten heraussuchen sollte. Aber dann verwerfe ich den Gedanken wieder, gehe stattdessen nochmal zum Büffet.
Schnelle Belgier
Dort stehe ich mit Jan Claes und Guido Dreesen. Sie sind Teil der großen Benelux-Fraktion, die morgen an den Start geht. Das macht Sinn, Belgien und die Niederlande sind schließlich nicht weit weg, der Track führt sogar einige Kilometer an der belgischen Grenze entlang.
Ins Gespräch komme ich zwar nicht mit ihnen, ich beäuge aber eingehend ihre Bikes. Die Belgier sind ja erfahrungsgemäß starke Fahrer, Guido Dreesen wird zudem bei allen als Favorit auf die schnellste Zeit gehandelt. Sein Fahrrad sieht in jedem Fall nach schnell aus, am Lenker hat er beispielsweise eine Werkzeug geklebt, auf dem direkt eine Tubeless-Reparierwurst geklemmt ist – unkonventionell, aber wird wohl funktionieren.
Eine unruhige Nacht
Nach all dem Unterhalten und Fahrrad-Begutachten lege ich mich um 22.30 Uhr schlafen. Ich bin einer der ersten, der sein Lager im Gemeindesaal bezieht. Schlafen kann ich allerdings die ganze Nacht fast gar nicht. Zum einen bin ich aufgeregt und angespannt, zum anderen ist es aber auch ordentlich laut im Gemeindesaal.
Nicht, dass sich noch lange Leute unterhalten würden, vielmehr schlafen die meisten auf ultraleichten Isomatten, die mächtig Lärm machen, wenn man sich auf ihnen bewegt. So kommt es dazu, dass sich alle paar Minuten jemand umdreht und alle um sich herum wach macht. Ich trage auch dazu bei, muss mich in meiner Aufregung dauernd bewegen.
Als ich dann doch einschlafe, träume ich. Ich träume davon, dass ich mit dem belgischen Duo Jan und Guido um die schnellste Zeit kämpfe. Als ich aufwache, muss ich mich und meine verrückten Träume bremsen: So ein Quatsch.
Letzte Handgriffe
Dann endlich: 7 Uhr, Holger und einige Helfer betreten den Saal, knipsen das Licht an und tragen das Frühstück auf. Also auf in den Tag, in drei Stunden starten wir!
Ich packe zunächst meine Sachen. Meinen Rucksack lasse ich hier, das ist das praktische, wenn Start und Ziel am selben Ort liegen. Kurzerhand packe ich auch noch meine Regensachen und das Kettenöl in den Rucksack – es soll die nächsten drei Tage nicht regnen.
Dann Frühstück. 8.00 Uhr.
Nochmals checke ich alle meine Sachen. Alles okay.
Warten.
10 Uhr ist schon recht spät für einen Start. 7 Uhr wäre ideal gewesen für mich, da ist es noch schön kühl.
8.45 Uhr, Holger ruft alle zusammen für eine kurze Ansprache. Endlich. Viel hat er nicht zu sagen, eigentlich wurde über Mails bereits alles kommuniziert.
Warten auf den Fährmann
Danach rollen wir zur Mosel. Hier hat sich Holger noch eine kleine Überraschung ausgedacht: Anstatt der Mosel drei Kilometer flussaufwärts nach Cochem zu folgen, um über die Brücke zu fahren, nehmen wir in Klotten die Fähre. Das Problem nur: Der Fährmann ist noch nicht da, er ist erst auf 10 Uhr bestellt.
Also nochmals warten. Wir machen viele Fotos, unterhalten uns. Ich prüfe fünfmal den Luftdruck meiner Reifen. Zwischendurch schnacke ich ein wenig mit Andreas Kunze. Den kenne ich auch von der BTG 2018. Er ist dort berühmt geworden, weil er von zwei 70 jährigen Blondinen zu einer Pool-Party eingeladen wurde.
Für mehr als oberflächliche Gespräche habe ich jetzt aber keinen Geist, will endlich los.
Mit der Fähre zum Start
Dann endlich kommt der Fährmann. Er fährt erst ein paar andere Radfahrer über die Mosel, dann uns Eifel-Graveller.
Am anderen Ufer angekommen stellen wir uns auf. Oh, ich bin ganz vorne! Aber es reißt sich offensichtlich sonst keiner um die Pole-Position, also bleibe ich, wo ich bin.
Startschuss
Holger ruft seine Tochte nach vorne, sie soll das Startsignal geben. „Auf die Plätze, fertig, los!“ Der Fährmann hupt und wir lassen die Räder rollen. Es geht los!
Die ersten Kilometer geht‘s zwar auf Schotter, dafür aber flach an der Mosel entlang. Ich lege mich in die Aerobar und gebe Gas. Direkt an meinem Hinterrad hängt Bernd Rücker. Es wäre okay für mich wenn jemand überholt. Ich fahre gut 30 und finde das ganz gut für den Start. Aber auch für die anderen scheint das eine gute Geschwindigkeit zu sein, Bernd und ich bleiben die ersten fünf Kilometer vorne.
„Tschüss!“
Kurz vor Treis-Karden, wo der Track von der Mosel und in die Berge abweicht, schieben sich aber doch drei Fahrer nach vorne. Unter ihnen ist auch Guido Dreesen. Als wir kurz vor der Ortseinfahrt sind, dreht er sich schräg zur Seite und sagt „Tschüss“. Moment mal, habe ich das richtig verstanden? Hat der sich gerade nach sieben Kilometer auf dem Track von uns anderen Fahrern verabschiedet? Schon ein bisschen übermütig. Er scheint von sich überzeugt.
Ich bleibe dran. Es geht die ersten Höhenmeter hinauf. Auf der BTG habe ich die schnellen Fahrer direkt ziehen lassen, wollte sofort mein eigenes Tempo finden. Jetzt habe ich mir aber vorgenommen, von Beginn an schneller zu fahren. Zum einen will ich die „nur“ 650 Kilometer nämlich generell in höherer Intensität fahren; zum anderen geht‘s hier aber auch direkt bergauf, eine meiner Stärken.
Mit Ken unterwegs
Nach einigen weiteren Kilometern sind wir nur noch zu dritt an der Spitze: Guido, Ken Kölzer und ich. Mit Ken finde ich ein gemeinsames Tempo, Guido lassen wir vorne wegsausen. Es geht über Schotterwege und direkt auch einige Trails hinauf und hinab.
Nach etwa 30 Kilometer biegt der Track zur Geierlay Hängebrücke ab. Hier ist mächtig was los – Sonntagmittag, die Sonne scheint, viele Touristen strömen zur bis vor kurzem längsten Hängeseilbrücke Deutschlands. Glücklicherweise hat Holger angemerkt, dass man den kurzen Abstecher zur Brücke auslassen kann. Ken und ich brettern also weiter.
Wir sind mit einem solchen Tempo unterwegs, dass nur kurz Zeit für ein paar Worte bleibt. Ken kommt aus Frankfurt, ist beim Taunus Bikepacking an den Start gegangen. Mehr erfahre ich nicht. Scheint aber ein netter Typ zu sein.
Verpflegung
Nach knapp 50 Kilometern rauschen wir an einem Auto vorbei, aus dem gerade jemand einen kleinen Tisch und Brötchen hebt. Der ist doch von Holgers Team! Es gibt Verpflegung, Reste vom Frühstück. Gut, dass wir nicht noch fünf Minuten schneller waren, dann hätten wir ihn wohl verpasst.
Ich schiebe mir ein Brötchen und ein alkoholfreies Radler rein, mehr geht nicht, ich bin noch gut gesättigt vom Frühstück. Dann will ich weiter. Ken scheint allerdings entspannter, er will noch etwas bleiben. Ich breche also alleine wieder auf.
Wenige Zwischenstopps
Jetzt müsste nur noch Guido vor mir sein. Der wird sich wahrscheinlich schon einen Vorsprung herausarbeiten wollen, es macht wenig Sinn, auf Verfolgungsjagd zu gehen. Ich versuche also weiter, mein Tempo zu fahren.
Es geht wieder über die Mosel und durch Cochem hindurch. Ein idealer Verpfelgungsort eigentlich, aber ich halte nicht an. Generell ist meine Taktik, so wenig wie möglich zu stoppen. Dazu versuche ich diesmal etwas neues: Ich habe zum einen Maltodextrin dabei, Maiszucker, den man in Wasser auflöst. Zum anderen ist meine Rahmentasche mit neun Fresubin-Flaschen vollgepackt. Fresubin ist eigentlich als Flüssignahrung für bettlägrige Menschen, die keine feste Nahrung zu sich nehmen können, konzipiert. Mit 200ml nimmt man hier 300kcal und noch einige weitere Nährstoffe zu sich. Aber für den Ausdauersport ist das natürlich auch eine nützliche Sache.
Zusätzlich zu dieser „Astronautennahrung“ habe ich Snickers, Nüsse und alle möglichen Riegel dabei. Ich habe mir ausgerechnet, dass ich damit fast meinen gesamten Kalorienbedarf decken kann. Ich werde also versuchen, nur für Wasser, für Klopausen und maximal zweimal am Tag für einen Bäcker-Boxenstopp anzuhalten. Mal sehen ob’s auch wirklich funktioniert.
Harte Anstiege und eine Überraschung
Hinter Cochem wartet der erste wirklich steile Anstieg. Es geht hinauf zu einer der vielen Eifel-Burgen. Das ist Holger gut gelungen – der Track scheint so ziemlich jedes Highlight der Eifel zu verbinden. Meine Beine sind noch frisch, ich schraube mich den Anstieg hinauf.
Nach der Burg geht es wieder etwas flacher voran – eine gute Gelegenheit, um zum Smartphone zu greifen. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, erst am Abend zum ersten Mal die Sozialen Medien und den Ticker zu checken, aber die Versuchung ist einfach zu groß! Ich will unbedingt wissen, wo ich gerade stehe, wie weit die anderen entfernt sind. Außerdem stelle ich mir vor, dass mir schon viele Freunde geschrieben haben.
Als ich dann die Follow My Challenge-Seite öffne, kann ich kaum glauben, was ich da sehe: Ich bin Erster! Ich war mir sicher, dass Guido vor Ken und mir war, hatten wir ihn doch überholt? Dann fällt mir ein, dass er wahrscheinlich zur Hängebrücke gefahren ist, in dieser Zeit müssen wir ihn überholt haben.
Ich stecke das Smarthpone wieder weg und pedaliere weiter. Erster… nach 100 Kilometern… ich wollte ja schnell losfahren, aber Erster zu sein hatte ich trotzdem nicht auf dem Schirm. Ich fühle mich fast unwohl damit, jetzt sitzen mir knapp 50 Fahrer im Nacken.
Unterwegs mit Guido
Ich versuche mich nicht von dem Zwischenstand verrückt zu machen. Schön weiter das eigene Tempo fahren! War wohl doch nicht so eine gute Idee, zum Smartphone zu greifen.
In der nächsten Kleinstadt Ulmen halte ich an einem Restaurant an und zahle einen Euro, um im WC meine Wasserflaschen aufzufüllen. Gerade, als ich das Wasser auf dem Marktplatz mit Maltodextrin anreichere, begegnet mir Guido. Ich kann schwer deuten, ob er überrascht ist, mich zu sehen, in jedem Fall fragt er mich direkt, ob ich Erster sei.
„Ja“, gebe ich zur Antwort, „aber ich dachte die ganze Zeit, du wärst vor mir.“
„Ich habe Probleme mit der Hitze“, meint er und fährt weiter zum Dönermann nebenan. Während ich mir noch eine Fresubin-Portion einflöße, beobachte ich, wie er sich Wasser holt und damit sein Trikot wässert.
Wir fahren zugleich weiter und die nächsten Kilometer zusammen. Der Weg führt um einen kleinen See herum, da können wir gut nebeneinander fahren und uns etwas unterhalten. Guido meint, meine hintere Schaltung sei etwas schief. Er mache sich sorgen, dass sich der Schaltarm bei den kleinen Gängen in meinem Hinterreifen verfangen könnte. Komisch, eigentlich habe ich die Schaltung vor der Fahrt noch gewartet.
Aber das finde ich natürlich nett, dass er sich überhaupt darum schert. Generell scheint er ein netter Typ zu sein. Ich mag Belgier ja sowieso. Einmal bin ich mit dem Rad durch dieses kleine Land gefahren und auf Gastfreundschaft am laufenden Band getroffen.
Bei den nächsten technischen Stücken lasse ich Guido ziehen. Er scheint der bessere Mountainbiker zu sein. Ich fühle mich besser damit, hinter Guido herzufahren, anstatt ihn im Nacken zu haben. Ich rechne damit, dass er jetzt davonziehen wird und ich ihn erst am Ziel wiedersehen werde.
Die Feuerwehr, dein Freund und Helfer
Es geht weiter durch viel Wald und über einige Berge, außerdem führt der Track an einigen Maaren vorbei. Maare sind soetwas wie mit Wasser gefüllte Vulkankrater. Sie sehen alle sehr verführerisch aus – gerade bei den 30 Grad, die es gerade heiß ist und die es wohl auch die nächsten Tage geben wird. Aber ich widerstehe dem Drang, in eines der Maare hineinzuspringen und pirsche weiter.
Mein Wasserverbrauch ist immens, ich ärgere mich darüber, dass ich trotz der angesagten Hitze darauf bestanden habe, nur zwei Trinkflaschen mitzunehmen. Eine dritte wäre jetzt schon sehr sinnvoll, dann könnte ich zwei anstatt 1,5 Liter transportieren.
Gerade, als ich den Gedanken bearbeite, erreiche ich die schmucke Stadt Manderscheid. Wenn ich auf Wassersuche bin, habe ich es mir zur Gewohnheit gemacht, direkt Leute anzusprechen, die gerade vor ihren Häusern stehen, anstatt mühsam nach einem Friedhof oder nach einer öffentlichen Toilette zu suchen. Die Leute geben einem in den meisten Fällen gerne Wasser – und manchmal auch noch etwas mehr.
In Manderscheid treffe ich allerdings nicht auf einen Bewohner vor dem eigenen Haus, sondern auf die offene Feuerwehrstation. Ich fahre sofort darauf zu und frage den ersten Feuerwehrmann nach Wasser. Der scheint überglücklich und bietet mir zusätzlich Apfelschorle an. Da sage ich natürlich nicht nein, Apfelschorle ist isotonisch, geht also immer.
Ich erzähle der Feuerwehrmannschaft, die sich schnell um mich versammelt, von dem Event und den Regeln. Hilfe von außen darf man nur bekommen, wenn es sich um kommerzielle Angeobte oder spontane Begegnungen handelt – Trailmagic in der Community genannt. Die Feuerwehrmänner scheinen ganz beglückt, als sie realisieren, dass sie gerade zu so einer Trailmagic geworden sind. Eine Flasche Apfelschorle darf ich sogar mitnehmen. Perfekt, damit wäre mein so eben begrübeltes Problem auch behoben.
Sturz im Liesertal
Hinter Manderscheid wartet das Liesertal – der härteste Abschnitt der gesamten Tour. 20 Kilometer geht’s hier auf einem schmalen Wanderweg an einem steilen Abhang entlang. Das wird mir allerdings erst im Nachhinein bewusst, hier scheint sich die sparsame Vorbereitung auszuzahlen: Hätte ich im Vorhinein gewusst, was mich erwartet, ich wäre wohl viel pessimistischer in das Tal hineingefahren. Ohne Vorahnung betrete ich das Tal jetzt aber ganz unbekǘmmert und nehme geduldig jede Passage, bei der man schieben muss, in Angriff.
Das ist übrigens einer meiner Grundsätze bei solchen langen Events: Ich schiebe lieber zehn Mal, anstatt einmal zu stürzen. Gelange ich an Passagen, die ich mit etwas Risiko fahrend überwinden könnte, entscheide ich mich trotzdem meist für’s Absteigen – sicher ist sicher.
Nichtsdestotrotz mache ich im Liesertal an einer Stelle ordentlich Bekanntschaft mit dem Boden. Ich stürze bei voller Fahrt – allerdings an gar keiner technisch anspruchsvollen Stelle, sondern schlichtweg auf einem geraden Pfad. Ich glaube, der Boden war zum Abhang hin etwas weggebrochen, das muss ich übersehen haben.
Ich richte mich jedenfalls schnell wieder auf und überprüfe Körper und Material. Meine Beine sind zwar ganz blutig, das stammt allerdings von den vielen Dornen, die auf den ersten 130 Kilometern den Weg gesäumt haben. Beim Sturz scheine ich mich nicht verletzt zu haben. Und auch das Fahrrad hat nichts abbekommen.
Gott sei dank! Also weiter, noch vorsichtiger. Noch lange vor Sonnenuntergang erreiche ich Wittlich und das Ende des Tals.
Der Magen will nicht
In Wittlich lege ich eine Pause ein. Am Fluss wasche ich mir die blutigen Beine, außerdem versuche ich weiter zu essen. Das fällt allerdings zunehmend schwer, mein Magen sträubt sich dagegen, weitere Nahrung aufzunehmen.
Das Gefühl kenne ich bereits, auf der BTG hatte ich an den ersten beiden Tagen ebenfalls Mühe, Nahrung aufzunehmen. Beim Kauen der Nahrung musste ich immer wieder mit dem Übergeben kämpfen. So ist es auch jetzt. Mein Bauch sagt mir, dass er nichts mehr will, mein Verstand sagt mir aber, dass ich weiter essen muss, dass ich die Kalorienzufuhr nicht abbrechen lassen darf.
So kaue ich geduldig und mit kleinen Bissen an den Nüssen, Müsliriegeln und Trockenfrüchten. Zunehmend wird das Verlangen nach „richtigem Essen“, also nach Brot oder Pasta, größer. Ich nehme mir vor, morgen früh bei einem Bäcker Halt zu machen und belegte Brötchen zu essen. Bis dahin stille ich das Bedürfnis nach Salz mit Tabletten. Davon habe ich glücklicherweise einige mit, genau das richtige bei diesen Temperaturen!
Kurzes Schnacken mit Leona
Da ich gerade auf einer Schleife unterwegs bin, kehre ich im Dunkeln nach Manderscheid zurück – der Weg zurück ist deutlich einfacher. In Manderscheid lade ich nochmals Wasser nach und erspähe dabei ein anderes, bepacktes Fahrrad. Leona Kringe sitzt in einem Restaurant und genießt einen Flammkuchen. Sie ist offensichtlich gerade das erste Mal in Manderscheid, der anspruchsvolle Abschnitt durch das Liesertal steht ihr also noch bevor.
Ich warne sie davor, diesen Abschnitt im Dunklen zu fahren. Da hält sie mir ihr Smartphone hin und zeigt mir, dass sie gerade einen Videoanruf führt. Nach ein paar Sekunden verstehe ich auch, wieso sie mir den Bildschirm zeigt: Sie spricht mit Jonathan Lamp, ebenfalls jemanden, den ich von der BTG 2018 und ’19 kenne. Die Bikepackingwelt ist klein!
Stimmen im Dunkeln
Wir verabschieden uns und ich führe die Fahrt durch die Nacht fort. Es ist 22 Uhr, mindestens zwei Stunden möchte ich noch fahren. Doch mein Körper ächzt zunehmend, die Wärme hat mir wohl mehr zugesetzt, als ich es zunächst gedacht hatte. Nach dem nächsten Anstieg muss ich absteigen, mich sogar kurz hinlegen. Mein Herz pocht.
Weiter. Ich rolle nach Meerfeld hinab und komme an einem Friedhof vorbei. Der perfekte Ort zum Übernachten! Neben dem Friedhof gibt es eine Kapelle mit einem Vordach, unter das ich meine Isomatte ausbreiten könnte. Die Versuchung ist einfach zu groß. Ich fühle mich elendig schlecht, will nur schlafen. Ich gebe also nach.
Es ist erst 22.45 Uhr, ich bin erst 185 Kilometer gefahren. Doch ich beende den Tag in Meerfeld. Ich brauche Schlaf, und zwar mehr als nur drei Stunden. Gute Position hin oder her, schon jetzt alle Körner vergeben macht keinen Sinn.
Ich stelle den Wecker auf vier Uhr. Das bedeutet fast fünf Stunden Schlaf – welch ein Luxus!
Kurz vor dem Einschlafen werfe ich einen Blick auf den Ticker. Ich bin zwar noch an zweiter Stelle, Olaf Flechtner ist allerdings nur wenige Kilometer hinter mir. Er wird mich also gleich überholen.
Als ich gerade eingeschlafen bin, werde ich durch Schritte geweckt. Ich öffne meine Augen und sehe Olaf wenige Schritte neben mir stehen. Er sucht offensichtlich Wasser.
„Olaf“, rufe ich, „bist du das?“
Er blickt sich verwirrt um, kommt ja nicht alle Tage vor, dass man im Dunkeln auf einem Friedhof steht und seinen Namen hört. Dann sieht er mich und antwortet mit „ja“.
„Wir sehen uns morgen“, kann ich noch sagen, dann schlafe ich wieder ein.
Diffuse Träume
Ich träume. Es geht mir so schlecht, dass ich Holger anrufe. Der ruft einen Arzt. Der wiederum kommt auf einem Fahrrad. Am Morgen will er vorsichtig mit mir fahren. Ich erkläre ihm, dass es mir schon besser geht, ich es alleine versuchen möchte.
Wie sich Träume von der einen zur anderen Nacht doch wandeln können!
2 Kommentare
Sehr schöner Artikel Ben. Ich hatte beim Lesen fast das Gefühl auf dem Lenker zu sitzen und mitzufahren. 🙂 Nett auch,dass wir uns kurz durch die Linse gesehen haben.
Wir sehen uns sicher bald mal wieder am Start von irgendeiner Tour. Bis dahin alles Gute & Kette rechts
Hey Jonathan!
Hat mich auch gefreut.
Bis bald mal hoffentlich – die Bikepackingwelt ist ja klein 😉