Eine Radreise durch ein Land, in dem die Zeit still zu stehen scheint

by Benni

Je länger ich unterwegs bin, desto weniger informiere ich mich über das Land, das als nächstes auf dem Programm steht. Als ich mit Arne die Grenze von Georgien nach Armenien überquere, weiß ich: In Armenien wird wieder eine andere Sprache gesprochen, die Menschen haben auch hier ihr eigenes Alphabet und zusätzlich eine eigene Währung – alles andere ist mir unbekannt. Gut so! Wir haben zwar nur drei Tage für Armenien eingeplant, in diesen drei Tagen will ich Armenien, seinen Bergen und vor allem seinen Bewohnern aber ganz offen und neugierig begegnen.

Alte Industrie und Oldtimer

Schon auf den ersten Kilometern wird mir deutlich, dass hier alles noch etwas älter und ärmer ist, als in Georgien. Ich habe mir ja mal sagen lassen, dass man, wenn man viele Oldtimer sehen wolle, schnell nach Kuba reisen solle – da gäbe es sie noch. Jetzt weiß ich: So weit muss man gar nicht reisen, hier ist jedes zweite Auto ein äußerst altes. Besonders verbreitet ist der russische Lada. Jeweils mächtig Feinstaub ausstoßend überholen uns unzählige dieser eckig-ulkigen Wagen.

In Sachen Feinstaub werden diese Ladas allerdings noch von den vielen LKWs getoppt, die für mich aussehen, als wurden sie noch vor dem zweiten Weltkrieg produziert. Umso beeindruckender, dass sie noch fahren! Auch alte Maschinen auf den Feldern halten wir zunächst für Elektroschrott, den man einfach nicht weggeräumt hat. Doch dann erkennen wir, dass die Dinger noch laufen! Die Menschen müssen hier Meister im Reparieren sein, davon zeugen in jedem Fall die vielen Werkstätten am Straßenrand.

Außerdem sehen wir dort viele Zeugnisse aus Sowjetzeiten: Riesige, alte Industrieanlagen, die allesamt stillstehen und vor sich hinrosten; abwechslunsreich gestaltete Bushaltestellen, von denen Arne besonders gerne Bilder macht; zudem kleine Einkaufsläden und Tankstellen, von denen wir stets denken, dass sie spätestens seit 1989 geschlossen sind. Zu unserer Überraschung erspähen wir dann aber doch in dem ein oder anderen Laden frisches Gemüse, die alten Zapfhähne der kleinen Tanstellen schenken weiterhin Benzin aus.

Insgesamt gewinne ich auf diesen ersten Kilometern den Eindruck, dass sich in diesem ländlichen Armenien seit dem Ende des Kalten Krieges nicht viel getan hat, alles scheint so vor sich hin zu altern und die Menschen leben dazwischen ihr einfaches Leben. Arne meint, das habe mit der Prägung aus kommunistischer Zeit zu tun. Die Menschen hätten damals nur gehandelt, wenn sie dazu einen Befehl bekamen. Das habe sich in gewisser Weise bis heute erhalten. Klingt plausibel, aber so ganz sicher bin ich mir nicht. Vielleicht hängt es auch an den fehlenden finanziellen Mitteln? Womöglich ist hier aber auch der Unterschied zwischen Land und Stadt ein besonders großer?

Ein noch älteres Kloster

Der erste Eindruck bestätigt sich jedenfalls, als wir von der Hauptstraße abbiegen, um das alte Kloster Hnevank zu besuchen. Arne hatte dieses auf seiner Papierkarte entdeckt. Und nachdem ich auf Wikipedia ein idyllisch wirkendes Bild gefunden und zudem gelesen hatte, dass die Grundlegung dieses Klosters bis ins 7. Jahrhundert zurückreicht, fällt uns die Entscheidung leicht, dorthin zu radeln und die Nacht in der Nähe des Klosters zu verbringen.

Als wir schließlich am Kloster ankommen, sind wir ganz beeindruckt – und zwar nicht nur von dem Kloster selber, sondern zudem davon, dass wir die einzigen Besucher sind, und das vielleicht sogar seit Monaten. Hier gibt es wirklich nichts, keine Absperrungen, Hinweisschilder oder Häuser in der Nähe, nicht einmal Namen von Besuchern sind in die Steine geritzt. Nur Dung auf dem Boden der Kirche weist darauf hin, dass sich hier wohl gerne Kühe aufhalten.

Dabei könnte dieser Ort kaum schöner sein, der Blick hinab ins Tal mit der Kirche im Vordergrund böte sich für wunderschöne Fotos an, die Touristen doch so gerne schießen. Wir schlagen unsere Zelte direkt vor der Kirche auf – ehrlicherweise nicht nur, weil es praktisch ist, sondern auch, weil wir eben solch schöne Fotos mit unseren Zelten im Vorder- und der Kirche im Hintergrund schießen wollen.

Der reiseerfahrene Arne erzählt, dass es in Armenien viele solche alten Kirchen- und Klostergebäude gibt, die so vor sich hinaltern. Während wir uns fragen, ob das mit fehlenden finanziellen Mitteln oder Mangel an Touristen zusammenhängt, taucht aus dem Nichts ein Junge mit zwei Pferden auf. Gesprächig ist er allerdings nicht. Nachdem er sich interessiert unsere Fahrräder anschaut, entscheidet er sich, doch bei seinen Pferden zu bleiben und reitet weiter.

Unentdecktes Weltkulturerbe

Am nächsten Tag kehren wir auf die Hauptstraße zurück, biegen allerdings bald erneut von dieser ab, um eine weitere Klosteranlage zu besuchen. Die älteste Kirche des Klosters Sanahin stammt aus dem 10. Jahrhundert, insgesamt zählen die Kirchen und anschließenden Gebäude zu den am besten erhaltenen mitteralterlichen Klosteranlagen im Land (und darüber hinaus). Der gesamte Komplex wurde folglich schon 1996 zum Weltkulturerbe erklärt.

Hier werden wir also zur Abwechslung auf viele Touristen treffen, so denken wir, doch auch hier werden wir überrascht: Vor der Anlage gibt es ein kleines Toilettenhaus und ein paar Händler, die Handwerk verkaufen. Ansonsten ist da nichts, das man touristische Infrastruktur nennen könnte, kein Aufseher, kein Audioguide, kein Eintrittsgeld. In den Kirchen selber gibt es ein paar Touristen, die Fotos machen, die meisten Besucher scheinen mir aber Armenier zu sein, die in der Kirche beten und Kerzen anzünden.

Solch ein wenig frequentiertes Weltkulturerbe habe ich noch nie gesehen! Insgesamt wird mir deutlich, dass Armenien nur sehr wenig vom Tourismus erschlossen ist. Georgien kommt mir dagegen wie eine Touri-Hochburg vor. Wer also solche ruhigen Orte wie das Kloster Hnevank und Sanahin sucht, dem sei Armenien wärmstens empfohlen.

Wir verbringen etwa zwei Stunden im Kloster. Während dieser Zeit findet ein Gottesdienst statt. Da die Kirche so gut erhalten ist und der Gottesdienst zusätzlich auf ganz schlichte Weise gefeiert und mit armenischen Chorälen begleitet wird, fühle ich mich beinahe ins Mittelalter zurück versetzt. In Armenien scheint tatsächlich in mehrfacher Hinsicht die Uhr stehen geblieben zu sein.

Kaukasische Zurückhaltung

Und die Armenier selber? Die gehen natürlich mit der Zeit, laufen mit Smartphones durch die Gegend und fahren – wenn sie es sich leisten können – moderne Autos. Der Kontakt zu ihnen fällt mir aber, wie auch schon in Georgien, viel schwerer, als in der Türkei oder in Jordanien. Ein Beispiel macht das deutlich: Nach dem Besuch des Klosters kaufen Arne und ich in einem Supermarkt ein und setzen uns anschließend davor, um Mittag zu essen. Während der halben Stunde werden wir einmal von einem Mann gegrüßt, indem er uns herzlich einen guten Appetit wünscht. Alle anderen Menschen laufen während dieser halben Stunde an uns vorbei.

Ein Mitteleuropäer mag jetzt fragen: „Na und?“ Ich bin ein solches Verhalten allerdings einfach nicht mehr gewöhnt, in der Türkei und in Jordanien kam ich schließlich alle paar Minuten mit jemandem in Kontakt, wenn ich vor einem Supermarkt saß. Hier in Armenien scheint man sich gegenseitig „in Ruhe“ zu lassen. Wenn uns jemand anspricht, dann meist nur mit zwei, höchstens drei Fragen, danach ziehen die Menschen wieder ihre eigenen Wege.

Das ist auf der einen Seite angenehm, man kann als engagierter Radreisender sein Ding durchziehen und wird nicht dauernd von Einladungen zum Tee unterbrochen. Auf der anderen Seite bleibt einem das Leben und die Seele der Menschen verschlossen, gerade, wenn man nur so kurz wie wir durch das Land reist.

Tschüss Arne, hallo Tiflis!

Nach nur zweieinhalb Tagen überqueren wir nämlich schon wieder die Grenze nach Georgien. Wir konnten also einen kurzen Einblick in dieses verschlagene Land gewinnen. Ob es wirklich überall so verschlafen ist, das muss ich wohl ein anderes Mal herausfinden.

Mit der Überquerung der Grenze nimmt auch der Verkehr zu, je näher wir Tiflis (oder wie die Georgier selber sagen: Tiblisi) kommen, desto mehr Gesellschaft haben wir von LKWs und PKWs. Wir fliegen also mit einem 25er-Schnitt über die Hauptstraße und erreichen bereits am frühen Mittag die georgische Hauptstadt.

Hier ist es Zeit, Arne Tschüss zu sagen. Er möchte noch am Abend einen Bus in den Westen nehmen, von wo er morgen weiter zum Flughafen in Kutaisi fahren will. Wir trinken einen letzten Kaffee, tauschen die vielen Bilder und Videoaufnahme aus und erinnern uns dabei nochmals an all das, was wir die letzten Tage durchlebt haben. Es beeindruckt mich immer wieder: Wenn man gemeinsam mit dem Fahrrad reist, lernt man sich innerhalb kurzer Zeit auf ganz intensive Weise kennen. Geht man dann wieder auseinander, hat man das Gefühl, einen guten Bekannten ziehen zu lassen.

Nachdem Arne fort ist, buche ich mich für drei Nächte in ein Hostel ein. Das gibt mir die Gelegenheit, Tiflis zu Fuß kennenzulernen. Die Altstadt hat eine Stadtmauer und viele gut erhaltene Kirchen zu bieten. Als ich allerdings bewusst die Hauptadern der Altstadt verlasse, um die Seitengassen zu erkunden, bin ich überrascht: Die Häuser sind zum größten Teil abbruchreif, manche werden notdürftig mit Holzstämmen abgestützt. Als ich auf dem Weg zu einer der großen Kirchen eine falsche Abbiegung nehme, lande ich in einem völlig heruntergekommenen Hinterhof, in dem mir eine Frau in Bademantel den Weg zurück weist.

Der Kontrast, der mir bereits in Batumi aufgefallen war, ist hier nochmals krasser und auf engstem Raum anzutreffen. Auf der einen Seite sind da die modernen Restaurants und Museen, die restaurierten Kirchen und Mauerüberreste; verlässt man die Hauptroute allerdings nur für drei Schritte, landet man in einer anderen Welt. Das ist mir bisher in keiner anderen Großstadt derartig aufgefallen.

Im kleinen Gang zurück nach Batumi

Nach den zwei Tagen in Tiflis schwinge ich mich wieder auf mein Fahrrad. Ich habe vier Tage Zeit, um 350 Kilometer zu fahren und nach Batumi zurückzukehren. Da es durch das georgische Tiefland geht, ist das eine Entfernung, die äußerst entspanntes Radfahren zulässt. Ich lasse mir also Zeit, fahre ganz unbeschwert und mache auch fast keine Fotos – damit waren Arne und ich die letzten Tage schließlich genug beschäftigt.

So gibt es von diesen vier Tagen nicht allzuviel zu berichten. Außer vielleicht, dass ich durch Gori komme, der Geburtsstadt Josef Stalins. Ein winziges Häuschen gibt es da im Stalin-Park zu sehen, dieses Häuschen wird von einem größeren Haus umfasst, daneben steht nochmals ein größeres, ja ein riesiges Haus, das Stalin-Museum. In dem kleinen Häuschen soll Stalin zur Welt gekommen sein. In dem riesigen Haus daneben wird an sein Leben erinnert. Allerhand Reisegruppen, vornehmlich aus Russland, machen zunächst Halt vor dem kleinen Haus, schießen einige Selfies, bevor sie dann in das große Haus eintreten. Mir reicht es, das kleine Haus zu sehen. Nach einem kurzen Mittagsschlaf daneben fahre ich weiter.

In der Folge kommen mir viele andere Radreisende entgegen. Georgien ist also offensichtlich auch für die Fahrradurlauber kein Geheimtipp mehr. Einmal begegnet mir ein junges russisches Pärchen, das für eine Woche von Batumi nach Tiflis reist. Ein anderes Mal kommen mir ganze neun Niederländer etwas höheren Alters entgegen, die für zehn Tage von Armenien nach Georgien reisen.

Zu guter Letzt treffe ich auf Leonel, einen Spanier mit brasilianischen Wurzeln. Er beeindruckt mich besonders. Leonel hatte vor fast zwanzig Jahren einen schweren Unfall, in dessen Folge er weder sprechen, noch gehen konnte. Nach Jahren der Rehabilitation fällt ihm das Reden zwar noch schwer, und auch sein rechter Arm ist weiterhin gelähmt. Aber immerhin, er kann mit dem Fahrrad reisen, und das nicht zu knapp! Er ist seit einigen Monaten unterwegs und möchte bis Juni in den Iran fahren. Von dort wird er zurück nach Spanien fliegen. Im nächsten Jahr will er allerdings in den Iran zurückkehren, seine Reise fortsetzen und so in Etappen um die ganze Welt reisen.

Mehr gibt es aber nun wirklich nicht von den letzten vier Tagen zu berichten. Die meiste Zeit saß ich tiefenentspannt auf meinem Fahrrad oder an einem schönen Ort vor meinem Zelt, habe mit georgischen Kühen geredet, in den Himmel geblickt und Gott gedankt für all das, was er mir schenkt.
Ein Video von der Zeit in Georgien und Armenien – also von der aufregenden Zeit zusammen mit Arne, nicht von den ereignislosen letzten vier Tagen – folgt bald. Ich werde die Zeit auf der Fähre über das Schwarze Meer nutzen, um den Film zu schneiden. Achja, genau, ich nehme die Fähre über das Schwarze Meer, im Juni hoffe ich, wieder in Deutschland und der Schweiz zu sein.

Download GPX

Mehr Beiträge

1 Kommentar

Video: Auf zwei Rädern durch den Kaukasus - Velospektive September 9, 2020 - 10:23

[…] Journal […]

Antwort

Kommentiere diesen Beitrag