Was einem auf der anatolischen Hochebene so alles begegnet

by Benni

Am Morgen regnet es nicht mehr, als George und ich in der kleinen Mescit, einem Gebetsraum neben der Tankstelle, aufwachen. Der Wind weht stark aus nördlicher Richtung. Kommt George also mit mir Richtung Osten und Mersin? Am Abend zuvor hat er gesagt, er würde mit dem Wind ziehen, also gen Osten fahren, wenn der Wind nach Osten bläst, und gen Westen, wenn der Wind nach Westen weht. Jetzt entscheidet er sich für den Westen. Ich möchte nach Mersin in die Berge aufbrechen, für ihn ist das zu früh und zu kalt, er bleibt lieber noch etwas an der Küste.

Ich nehme also Abschied von diesem ruhigen, tiefsinnigen und Radreise-erfahrenen Rumänen. Wir hatten sofort Freundschaft geschlossen, als wir uns auf der Fähre von Zypern in die Türkei begegnet waren. Auf der einen Seite finde ich es schade, hatte ich doch gehofft, endlich mal wieder mit jemanden zusammen unterwegs sein zu können. Zum anderen sage ich mir allerdings auch, dass es gut ist, die Türkei alleine zu bereisen. Denn ich möchte das Land, das ich im November schon so schätzen gelernt hatte, noch besser kennenlernen und weiteren seiner Bewohner begegnen. Ich weiß, dass das am einfachsten geht, wenn ich alleine unterwegs bin.

Kein Zeltplatz an der Küste

Von der kleinen Hafenstadt Taşucu folge ich also der Küste Richtung Osten und der Metropole Mersin. Hier an der Küste tobt das Leben, eine Stadt reiht sich an die nächste, die Straßen sind stark frequentiert. 20 Kilometer vor Mersin nehme ich mir vor, am Strand nach einem Zeltplatz, einem verlassenen Haus oder einer geschlossenen Bar zu suchen, unter deren Dach ich die Nacht verbringen kann. Das hatte bisher immer ohne Probleme funktioniert, wenn ich an der Küste unterwegs war. Aber nicht hier. Schon so weit außerhalb der Stadt ist die gesamte Küste mit riesigen Wohnblöcken zugebaut. Dazwischen gibt es keinen einzigen freien Platz, wo sich nicht viele Menschen aufhalten würden.

Ich greife also zum ersten Mal zu der Karte WarmShowers. Das ist eine Internetseite, die ähnlich wie Couchsurfing funktioniert, allerdings speziell von und für Radreisende ins Leben gerufen wurde. Man kontaktiert Personen in der Umgebung, die einen Schlafplatz und eben eine warm shower, eine warme Dusche für umsonst anbieten. Wie gut, dass ich gestern mit George eine türkische Sim-Karte gekauft habe. Ich kann auf der WarmShowers-App sehen, dass Oğuzcan ganz in der Nähe wohnt und frage ihn spontan, ob ich bei ihm übernachten könnte. Sofort antwortet er: Er sei gerade in Ankara, aber sein Freund Cihan habe sicher Platz und Zeit für mich. Cihan wiederum schreibt mir, dass er in einer Stunde zu Hause sei. Kein Problem, ich könne gerne bei ihm übernachten.

Als er mich nach einer Stunde empfängt, stelle ich fest, dass er nicht alleine ist, obwohl er doch in seiner kleinen Wohnung alleine lebt. Er hat zwei Freunde und eine Nachbarin zu Gast. Außerdem feiern die Leute von nebenan gerade ihren Einzug, ich werde also Teil einer bunten Gruppe junger Türken, die zusamen den Abend verbringen. Später werde ich lernen, dass das ganz normal ist: Man ist hier selten alleine zu Hause, sondern verbringt den Abend meistens mit Freunden – besonders, wenn man einen Gast hat. Dann werden besonders gerne zusätzliche Freunde und Verwandte eingeladen.

Ich verbringe den Abend damit, über meine Reise zu erzählen, worauf die anderen von ihren erzählen. Die meisten von ihnen haben die Türkei zwar noch nie verlassen, trotzdem erinnern sie mich mit ihren Ansichten, der Musik, die sie hören und sogar der Kleidung, die sie tragen, an einen typischen Mitteleuropäer. Die Politik der Regierung lehnen sie ab, fast alle von ihnen würden das Land gerne verlassen, um im Ausland mehr Geld zu verdienen. Auch wollen sie gerne Englisch lernen, manche von ihnen sind durch das regelmäßige Schauen von amerikanischen Serien auch schon recht gut darin.

Durch meine Erfahrungen, die ich im November machen konnte, weiß ich bereits, dass diese jungen Leute die eine Seite der türkischen Bevölkerung repräsentieren. Es gibt jedoch die anderen, meist älteren, die mit ihrem Lebensstil und ihren Ansichten fast das genaue Gegenteil darstellen, ja man würde kaum glauben, dass sie im selben Land aufgewachsen sind. Hier in der Türkei scheinen mir die gesellschaftlichen Unterschiede besonders krass und nicht vergleichbar mit jenen in Mitteleuropa. Dieser Eindruck sollte sich in den kommende Tagen nur bestätigen.

Ein Fahrradparadies

Mersin durchquere ich am nächsten Morgen schnell. Ich bin froh, als ich den Verkehr hinter mir habe, die Küste verlasse und in die Berge aufbrechen kann. Bevor es aber richtig steil hoch geht, stärke ich mich noch mit einem Tantuni, eines dieser vielen türkischen Spezialitäten. Während ich so vor dem Imbiss sitze, kommen immer mehr Leute zusammen, begutachten mein Fahrrad und fragen mich, woher ich komme und wohin die Reise ginge. Als ich dann bezahle, werde ich vom Personal, das gerade selber Mittag isst, zu einer zweiten Mahlzeit eingeladen.

So läuft das in diesem Land. Man kommt andauernd mit Leuten ins Gespräch, wird zu Tee oder zum Essen eingeladen und bekommt sogar einen Übernachtungsplatz angeboten. Ich habe dieses Land als Radfahrer lieben gelernt. Was ich besonders schätze, ist die Art der Menschen: Sie sind sehr hilfsbereit, freundlich und herzlich, dabei aber nicht zu aufdringlich. In Jordanien waren mir die Menschen (oder besser gesagt die Männer) oft zu direkt und laut, ganz zu schweigen von den Steine werfenden Kindern – etwas, das ich in der Türkei auch noch nicht erlebt habe (wobei es auch vorkommen soll, wie mir andere Radreisende berichtet haben).

Und auch sonst könnte ich mich als Radfahrer nicht wohler fühlen: Das Essen ist nicht nur sehr gut und günstig, sondern fast immer leicht zugänglich. Meist kann man einfach am Straßenrand bei irgendeinem der vielen Restaurants halten und sicher sein, dass man gutes Essen bekommt. In keinem Land habe ich Kochutensilien bisher weniger vermisst, als hier.

Und zu guter Letzt ist auch das Übernachten eine unkomplizierte Sache: Zelten ist (abgesehen von der bebauten Küste) selten ein Problem. Zusätzlich kann man immer an Tankstellen fragen, ob man in der Mescit (Gebetsraum) schlafen kann. Auch in Moscheen wird man eigentlich nie abgewiesen. Ich weiß außerdem um Couchsurfing und WarmShowers. Ich mache mir also gar keine Sorgen, als ich den Tantuni-Imbiss verlasse und mich die ersten steilen Passagen hinauf auf die anatolische Hochebene kämpfe. Dieses Plateau, das auf über 1000 Metern liegt, ist im vergleich zur Küstenregion äußerst dünn besiedelt. Mein Plan sieht vor, es in knapp zwei Wochen zu durchqueren, also vom Mittelmeer zum Schwarzen Meer zu gelangen und von dort dann weiter Richtung Kaukasus zu fahren.

Zu Gast bei einem Imam

Am Nachmittag setzt erneut Regen ein. Ich entschließe mich dazu, in dem kleinen Dorf, in dem ich gerade angekommen bin, zu bleiben und in der Moschee zu fragen, ob ich in ihr übernachten kann. Es dauert noch eine Stunde, bis zum Abendgebet aufgerufen wird. In solch kleinen Moscheen wird normalerweise der Ruf des Muezzin von einer größeren Moschee aus der Großstadt live übertragen. Die Aufgabe des Imams besteht darin, die Übertragung einzuschalten und danach das Gebet zu leiten.

Kurz, bevor es soweit ist, erscheint er und blickt überrascht auf das Fahrrad, das da vor seiner Moschee parkt. Sofort ergreife ich die Initiative und bringe mein Anliegen vor. Er spricht zwar kein Englisch, versteht aber und willigt ohne Bedenken ein. Er bittet mich in die Moschee und fragt, ob ich Moselm sei. „Nein, Christ“, antworte ich. Okay, ich könne während des Gebetes in der Moschee bleiben und einfach warten. In der Zwischenzeit ist ein weiterer Dorfbewohner erschienen, zusammen beten sie für etwa 15 Minuten.

Nach dem Gebet erklärt mir der Imam, dass es viel besser sei, wenn ich in seiner Wohnung direkt neben der Moschee schlafe. Also gut, ich begleite ihn in seine kleine Wohnung, wo er sofort damit anfängt, mir ein Abendessen zuzubereiten. Auch das Sofa in seinem Schlafzimmer ist schnell zum Gästebett umgebaut. Schon bald sitzen wir auf dem Boden und essen zu Abend.

Die nächsten zwei Stunden unterhalten wir uns mittels Google Translator und diskutieren ganz offen – und zwar nicht über irgendetwas, es geht ums Eingemachte. Er fragt mich, was ich vom Koran, der Bibel, dem Islam und dem Christentum halte. Und weil er so offen fragt, fühle ich mich frei, ganz offen zu antworten. Könnte ich mich nur besser ausdrücken! Mit Google Translator ist es eben doch recht mühsam, sich zu unterhalten. Trotzdem verstehen wir uns in unseren grundsätzlichen Ansichten, wir sind in vielem einer Meinung, widersprechen uns aber auch in zentralen Punkten.

Unsere verschiedenen Ansichten hindern ihn nicht daran, mich auch am nächsten Morgen mit einer Mahlzeit zu beschenken und mich generell wie einen engen Freund zu behandeln. Wir verabschieden uns herzlich. Wie schön, wenn man so offen diskutieren und trotzdem in Freundschaft auseinander gehen kann!

Zusätzlich bin ich beeindruckt von den Kontrasten, die ich da innnerhalb kurzer Zeit durchlebe: Am Tag zuvor war ich noch bei westlich geprägten Menschen an der Küste zu Gast, jetzt bei einem Imam mit so ganz anderen Ansichten und einer so unterschiedlichen Lebensweise.

Zwei Franzosen in der Türkei

Ich lasse die Moschee und das kleine Dorf hinter mir und strample eine steile Straße 1300 Meter hinauf. Gerade, als ich den Pass überquere, kommen mir zwei Fahrradfahrer entgegen – Dani und Yassine aus Frankreich. Wir fahren zusammen ins nächsten Dorf und machen Halt für einen Cay und eine gute Unterhaltung. Die beiden sind seit Dezember unterwegs. Sie haben ihren Master abgeschlossen und wollen jetzt von Frankreich bis in die Mongolei radeln. Sie haben einige gute Tipps für mich parat, da sie aus der Gegend kommen, in die ich unterwegs bin.

Ich bin besonders beeindruckt von ihre Sprachkenntnissen. Die beiden haben sich vorgenommen, jede Sprache der Länder, die sie durchfahren, so gut wie möglich zu erlernen. Auf Türkisch können sie sich schon ganz gut verständigen – nach vier Wochen im Land! Schande über mich, ich kämpfe immer noch mit den basalsten Worten.

Nach der Teepause brechen wir wieder in entgegengesetzte Richtungen auf. Schade, dass ich seit der Begegnung mit Ida und Christof in Österreich keinen Radfahrer mehr getroffen habe, der in meine Richtung unterwegs war.

Couchsurfing in Niğde

Doch ich bin nicht lange alleine, in der Stadt Niğde gibt es nämlich einen Couchsurf-Gastgeber, der mich für eine Nacht aufnimmt. Ich fahre also mit kärftigen Pedalschlägen über die Hochebene in die Stadt, die normalerweise von keinem Touristen besucht wird. Das bestätigt mir auch Ömer, mein Gastgeber. Er sei seit einem Jahr auf Couchsurfing angemeldet, bisher habe ihn jedoch nie jemand kontaktiert. Gerade gestern habe er sein Profl löschen wollen, als ihn meine Anfrage erreichte.

Ömer ist Polizist, verheiratet und hat zwei Kinder. Seine Kinder und seine Frau bekomme ich allerdings nicht zu Gesicht, weil mich Ömer in das Haus seiner Freunde Halil und Saad führt. Hier übernachtet Ömer immer, wenn er am nächsten Morgen arbeiten muss. Und hier lädt er auch mich ein, die Nacht zu verbringen.

Die drei Freunde – zwischenzeitlich erscheinen noch allerhand anderer Leute – behandeln mich mal wieder wie einen königlichen Gast. Am Abend wird groß aufgetischt. Ich bin allerdings nicht sicher, ob sie extra für mich so viel Essen zubereiten, oder weil sie alle den Tag über gefastet haben. Die drei sind gläubige Muslime, halten sich streng an die Fastengebote und an die Gebetszeiten. Einer von ihnen ist sogar beruflich damit beschäftigt, Leute von der „Wahrheit des Islam“ zu überzeugen – wie er es nennt.

Mal wieder verbringe ich also einen Abend damit, offen und herzlich über Religion und Glaube zu diskutieren. Und mal wieder bin ich dankbar, dies so offen tun und trotz aller unterschiedlichen Ansichten in Freundschaft mit meinen Gastgebern auseinander gehen zu können. Halil bemüht sich sogar noch, Freunde in anderen Städten auf meiner Route zu kontaktieren und sie zu fragen, ob sie mich ebenfalls für eine Nacht aufnehmen können.

Zur Abwechslung ein bisschen Tourismus

Die drei Freunde geben mir auch noch einen Tipp mit auf den Weg: In Derinkuyu müsste ich unbedingt eine antike, unterirdische Stadt besuchen, die zum Unesco Weltkulturerbe gehöre. Achja, touristische Orte! Ich hatte in letzter Zeit gar nicht mehr daran gedacht, sie zu besuchen. Aber die kleine Stadt Derinkuyu liegt nun wirklich genau auf meiner Route. Ich mache also Halt in ihr.

Auf einmal bin ich von ganz vielen Reisebussen und Menschen aus aller Herren Ländern umgeben. Das ist schon ein komisches Gefühl: Da fährt man Stunden und Tage durch das türkische Niemandsland und begegnet nur Einheimischen, die einen behandeln, als wären sie nie zuvor einem Touristen begegnet, und dann betritt man diesen Weltkulturerbe-Ort und trifft auf Menschen, die von Reisebussen ausgespuckt werden, Fotos machen und zum nächsten „Highlight“ rasen; die Einheimischen sind auf einmal ganz in sich gekehrt und sprechen einen wenn dann nur an, wenn sie einem was verkaufen wollen.

Die unterirdische Stadt ist trotzdem ganz interessant. Vor hunderten Jahren – man weiß nicht genau wie und wann – haben sich die Menschen viele Meter in die Erde gegraben, um einen Zufluchtsort in Zeiten der Bedrohung und Angriffe zu haben. Ich folge ihren Spuren, quetsche mich durch enge Gänge in die Tiefe und versuche mir vorzustellen, wie hier ganze Familien mehrere Wochen ausgeharrt haben.

Die berühmten Heißluftballone von Kappadozien

Von Derinkuyu ist es nicht mehr weit nach Kappadozien. Hier wird’s erst richtig touristisch. Kappadozien ist einer dieser Orte, von denen Reisende gerne beeindruckende Fotos auf ihren Internetseiten und Instagram-Profilen hochladen. Man sieht einzigartige Felslandschaften, zusätzlich steigen jeden Morgen hunderte Heißluftballone in die Luft und lassen Touristen das Gebiet aus der Vogelperspektive betrachten.

Wenn man diese Fotos betrachtet, wird man allerdings etwas in die Irre geführt. Ich stelle mir optimistisch eine einsame Landschaft vor, die ich mit meinem Rad erkunden kann. Als ich in Göreme, dem Zentrum von Kappadozien ankomme, sehe ich allerdings erstmal nichts als Hotels, Restaurants und Anbieter für Quad-Ausflüge. Außerdem wird einem an jeder Ecke ein „guter Preis“ für eine Ballonfahrt versprochen. Ich muss also schnell mein romantische Bild von dieser Gegend, das durch die Bilder vermittelt wird, relativieren. Aber irgendwo ist es ja auch klar, so sage ich mir selber: Die tausende Touristen, die diese Gegend täglich besuchen, müssen ja auch irgendwo unterkommen.

Ich fröhne in jedem Fall mal wieder dem Individualismus, fahre entschlossen an jeglichen Restaurants und Hotels vorbei und suche mir in etwas höherer Lage einen einsamem Zeltplatz. Ganz in der Nähe werden, so hoffe ich, morgen die Heißluftballone in die Luft steigen.

Und so kommt es dann auch. Bereits um 5:30 Uhr höre ich von allen Seiten geschäftige Stimmen. Wenig später erheben sich dann die ersten Ballone. Was ich die nächsten zwei Stunden sehe, ist wirklich einmalig beeindruckend. Ich fotografiere fast meine Finger wund. Damit sei aber auch festgestellt: Die Fotos, auf denen es so aussieht, als ob ich in aller Ruhe dem Spektakel zuschauen würde, sind natürlich alle gestellt. In Wirklichkeit bin ich zwei Stunden herumgelaufen, um mein Fahrrad, mein Zelt und mich selber mit den Heißluftballonen abzulichten. Aber was tut man nicht alles für ein paar gute Fotos, die man später stolz auf seiner Internetseite präsentieren kann.

Weitere Fotos gibt’s hier.

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Entdeckungen in einem Land, das ich Heimat nenne - Velospektive Juni 10, 2019 - 16:17

[…] Dönerteller und den Ayran, setze mich draußen vor den Imbiss und schwelge in Erinnerungen an die Türkei. Wenig später schaut der Mann, Eren mit Namen, durch das Fenster und befragt mich zu meiner […]

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