Alle paar Tage begegne ich selbst in den entlegendsten Gegenden anderen Radreisenden. In Eilat ist es wieder so weit. Ich erreiche gerade die Promenade und setze mich, um etwas zu essen, da kommt Oswaldo angeradelt. Er stammt aus Ecuador und ist seit 15 Monaten unterwegs. Besonders beeindruckt bin ich von seiner Ausrüstung: Er ist noch viel leichter bepackt, als ich!
Oswaldo kommt gerade aus Jordanien, meinem nächsten Ziel. Er hat also viele hilfreiche Tipps für mich parat. Ganz begeistert spricht er über die Beduinen. Diese Leute würden einen ohne Vorbehalte aufnehmen und bewirten, dabei aber kein Interesse an Geld haben. Ich freue mich, diesen Beduinen selber begegnen zu können.
Doch ich bin auch gewarnt vor diesem Land jenseits des Jordans: Schon mehrmals hatte ich gehört, dass die Hunde hier besonders zahlreich und aggressiv sein sollen. Zusätzlich liegt Jordanien ganz schön hoch, etwas, das sich zu dieser Jahreszeit als Herausforderung darstellen könnte. Und zuletzt sollen Steine werfende Kinder eine Gefahr für Radreisende sein.Mit Vorfreude, aber auch gewissem Respekt blicke ich also auf das jordanische Gebirge, das sich mächtig vom Roten Meer erhebt.
Weihnachten in guter Obhut
Bevor ich Jordanien jedoch bereise, verbringe ich die Weihnachtsfeiertage in einem christlichen Hostel in Eilat. Das Shelter-Hostel ist bei allen Christen (und darüber hinaus) in Israel gut bekannt, und das liegt nicht an der noblen Ausstattung (ich schlafe auf einer Matratze im Innenhof), der guten Lage (der Strand ist einige Kilometer weit weg) oder der guten Bewirtung (kochen muss man selber), sondern ganz alleine an den Menschen, die man hier antrifft. John aus den Niederlanden und Judy aus den USA haben sich in den 70ern in Israel kennengelernt und einige Jahre später das Hostel gegründet. Für sie stand nie der Umsatz im Mittelpunkt, sondern die Begegnung mit und der Dienst an den Menschen.
Während meiner Zeit im Hostel lese ich die Geschichte, die Judy in einem Buch zusammengefasst hat. Je mehr ich lese, desto beeindruckter bin ich von dem, was sich hier im Laufe der Jahrzehnte alles abgespielt hat. Zunächst kamen vornehmlich Hippies, danach russische Einwanderer, danach wiederum Flüchtlinge aus Afrika. Heute kommen viele Christen und zusätzlich auch viele Israelis. Im Shelter darf man nämlich eine Nacht konstenlos übernachten, wenn man den Israel National Trail absolviert hat. Wie ich bereits im letzten Bericht beschrieben habe, wird dieser Trail gerne von Israelis abgewandert, die gerade ihren Militärdienst beendet haben. Täglich betreten also ein paar Wanderer, bepackt mit großem Rucksack und überglücklich, die über 1000 Kilometer absolviert zu haben, das Hostel.
Zusammen mit ihnen und weiteren internationalen Gästen feiere ich Weihnachten. Wir singen, lesen aus dem Lukasevangelium und veranstalten ein großes Festessen. Sonst gibt’s keine weitere Veranstaltung oder einen Gottesdienst, aber ich bin genug damit beschäftigt, im Roten Meer zu schnorcheln und besonders mit anderen Gästen und Freiwilligen aus allen möglichen Ländern Zeit zu verbringen.
Fotos von Konstantin Orizari
Das Shelter-Hostel ist einer dieser Orte, die mich für meinen eigenen Lebensweg inspirieren: Judy und John praktizieren seit Jahrzehnten schier uneingeschränkte Gastfreundschaft. Indem sie ihren Glauben an Christus in Wort und Tat bezeugen, hat Gott große Veränderung im Leben unzähliger Menschen bewirkt. Ähnlich möchte ich irgendwann auch meinen Mitmenschen dienen. Nur wo und wann das sein wird, das weiß ich noch nicht.
Erste unsanfte Begegnungen
Vielleicht ja im Nahen Osten? Ich verlasse jedenfalls die gute Gemeinschaft, das Land Israel und betrete das in vielem so gegensätzliche Jordanien. Der Grenzübertritt verläuft relativ einfach, ich muss eine Austrittsgebühr für Israel und das Visum für Jordanien bezahlen und schon betrete ich die Hafenstadt Akaba. Hier hebe ich nur Geld ab, kaufe etwas Essen ein und mache mich schon auf in die Berge.
Die Straße führt gemächlich, dafür aber stetig bergauf, bald bin ich schon auf 1000 Metern. Doch um mich herum erheben sich noch höhere Berge. Mir wird also schnell klar: Östlich des Toten Meeres und des Jordans erhebt sich das Land noch deutlich höher, als in Israel. Es macht Sinn, wenn es in der Bibel von den Ammonitern, Moabitern und Edomitern, den damaligen Bewohnern dieser Berge, immer wieder heißt, dass sie nach Israel „hinabzogen“.
Mit der Höhe wird es auch kalt. Zusätzlich fängt es gerade jetzt an zu regnen. Ich hole Handschuhe, die ich seit der Alpenüberquerung nicht mehr gebraucht habe, hervor, und packe mich zusätzlich mit drei Lagen Kleidung ein. Das ist schon ein seltsames Gefühl, war ich doch gestern noch im Roten Meer schnorcheln! Zumindest hat das kalte Wetter den Vorteil, dass ich gar nicht in die Versuchung komme, in T-Shirt und kurzen Hosen zu radeln. Das sollte man hier nämlich vermeiden, in muslimisch geprägten Ländern gelten auch für Männer strengere Vorschriften, was das Zeigen von Haut angeht.
Vor fliegenden Steinen bewahrt mich das trotzdem nicht. Ich hatte gehofft, dass Kinder keine Steine werfen, wenn man sich als Tourist nur ordentlich anzieht. Aber schon die ersten Jungen, an denen ich vorbeifahre, sammeln kräftig Steine, als sie mich aus der Ferne erblicken. Ich fahre an ihnen vorbei und höre nach einigen Metern, wie mein Hinterreifen von einem Stein getroffen wird. Weitere Steine verfehlen mich glücklicherweise. Trotzdem ist meine Stimmung sofort im Keller. Was mache ich falsch? Trage ich die falsche Farbe? Ist es, dass ich für die Kinder einfach „westlich“, vielleicht sogar „amerikanisch“ oder gar „israelisch“ aussehe?
Neben den Kindern mache ich schnell auch Bekanntschaft mit den jordanischen Hunden. Die sind mir ähnlich feindlich gegenüber eingestellt, kommen rasend schnell angelaufen (oft aus dem Nirgendwo – wo ist bitteschön ihre Herde oder ihr Grundstück, das sie bewachen?) und rennen mir bellend hinterher. Doch im Gegensatz zu Steine werfenden Kindern habe ich mit aggressiven Hunden bereits Erfahrung. Wenn sie mir zu nahe kommen, greife ich routiniert zu meinem Stock, erhebe ihn drohend und entkomme damit jeglichen Bissen.
Zuflucht in der Tankstelle
Nach diesen ersten, unsanften Begrüßungskomitees geht es noch weiter bergauf. Kurz, bevor ich einen 1500 Meter hohen Pass erreiche, kommen mir zwei Radler entgegen. Noch zwei Verrückte, die sich im Dezember durch die jordanischen Berge quälen. Ihr rauer Dialekt verrät mir sofort ihre Herkunft: Duisburg. Wie schön, Ruhrpott-Klänge hier im fernen Jordanien zu hören! (Weitere Radlern begegne ich übrigens nicht mehr, es scheint also wirklich nur Deutschen in den Sinn zu kommen, zu dieser Jahreszeit hier langzuradeln.) Die beiden sind für zwei Wochen unterwegs und wollen Jordanien und Israel bereisen. Sie sind noch mehr eingepackt, als ich und erzählen mir, dass sie auf dem Pass heftigen Winden und Minusgraden ausgesetzt waren.
Oben angekommen ist es wirklich sehr kalt und stürmisch. Ich steuere eine Tankstelle an in der Hoffnung, dass ich irgendwo im Windschatten mein Zelt aufstellen und mich etwas im Café nebenan aufwärmen kann. Der Manager ruft sofort einen Angestellten, der gar nicht daran denkt, mir einen Zeltplatz zu zeigen. Stattdessen führt er mich in den ersten Stock, wo er und alle anderen Angestellten in zwei großen Matratzenlagern untergebracht sind. Er weist auf eine der Matratzen und reicht mir zusätzlich vier Wolldecken. Dem nicht genug, wenig später erscheint er mit Essen, das für fünf Personen reichen würde.
Im Laufe des Abends erfahre ich, dass alle Angestellten aus dem Jemen stammen. Sie sind vor dem Krieg in ihrem Land geflohen und verdienen nun hier in der Tankstelle gutes Geld. Ihr Alltag beschreibt sich schnell: Sie halten in zwei Arbeitsschichten die Tankstelle, den Supermarkt und das Café am Laufen; nach der Arbeit ziehen sie sich in ihr Matratzenlager zurück, essen gut, rauchen Shisha und genießen die Gemeinschaft fern ihrer Heimat. Dieser Alltag hört sich monoton an, auf mich wirkt er in meiner aktuellen Lage aber äußerst attraktiv.
Auf dem Desert Highway
Gut aufgewärmt und genährt stehe ich am nächsten Morgen vor der Wahl, den King’s oder den Desert Highway Richtung der Hauptstadt Amman zu nehmen. Der King’s Highway ist für Radfahrer in jedem Fall der beliebtere; er führt durch die Berge und an allen möglichen touristischen Highlights vorbei (u.a. an der Felsenstadt Petra). Der Desert Highways dagegen ist die große Straße, die alle LKWs nach Amman nehmen. In einem Radreiseforum beschreibt jemand diese Strecke als die „langweiligste Radroute der Welt“. Eigentlich scheint die Wahl also klar. Der Blick in die Berge deutet jedoch auf weiteren Regen, wahrscheinlich sogar Schnee. Außerdem zieht es mich nach Amman, wo ich in vier Tagen erwartet und die nächsten Woche verbringen werde.
Ich entscheide mich also für den Desert Highway, die touristischen Orte hebe ich mir für später auf. Sofort macht die Strecke ihrem Ruf alle Ehre: Es geht schnurstracks über das karge Hochplateau, das sich hinter den jordanischen Bergen erstreckt. Immerhin befindet sich die Straße auf großen Abschnitten im Ausbau, sodass nur eine Seite für den Verkehr geöffnet ist. Ich kann meistens die andere Seite nehmen und habe eine etwa zehn Meter breite Fahrbahn für mich.
Vor aggressiven Hunden und Kindern bleibe ich allerdings auch hier nicht verschont. Mittlerweile habe ich mir aber ebenfalls für die Kinder (besser gesagt Jungs, es sind nie Mädchen) eine Taktik zurecht gelegt: Wenn ich sehe, dass sie Steine sammeln, komme ich recht direkt auf sie zu, lege eine Hand auf mein Herz und rufe ihnen as-salāmu ʿalaikum entgegen, also Friede sei mit Euch. Das funktioniert gut. An einer Stelle bin ich besonders froh, weil ein Junge nach meinem Gruß einen großen Ziegelstein zu Boden fallen lässt.
Die Motivation der Kinder, Steine auf Touristen zu werfen, bleibt mir trotzdem ein Rätsel. Im Laufe der Fahrt kann ich beobachten, dass Hirten gerne Steine auf ihre Schafe und Ziegen werfen. Manchmal sehe ich Kinder miteinander spielen – dreimal dürft ihr raten, was sie machen? Sie werfen Steine aufeinander! Vielleicht wirft man hier also einfach Steine auf alles und jeden und es ist gar nicht so böse gemeint, wie ich denke?
Zu Gast bei Soldaten und Beduinen
Ich möchte es keinesfalls bei dieser einseitig, negativen Beschreibung belassen, das würde meiner Radreise durch Jordanien nicht gerecht werden. Vielmehr begegnen mir am laufenden Band äußerst freundliche Menschen. An einigen Stellen könnte ich alle paar Minute anhalten, dauernd winken mich Leute am Straßenrand zu sich und laden mich zu Cay ein. Einmal werde ich auf ein Militärgelände gewunken. Kurze Zeit, nachdem ich es betrete, ist die gesamte Kaserne um mich versammelt. Ein Foto mit allen erlaubt der Oberoffizier nicht, als ich wieder aufbrechen will, wollen dafür viele einzelnen Soldaten und Rettungsassistenten Fotos mit mir machen.
Auch Beduinen begegne ich immer wieder. Das ist fast unumgänglich, an einigen Stellen bin ich nämlich förmlich umzingelt von ihnen. Wo ich meinen Blick hin richte, sehe ich ihre Herden und Zelte. Am zweiten Abend bin ich in einer solchen Gegend und es scheint mir unmöglich, einen Zeltplatz zu finden, ohne sofort die Aufmerksamkeit von Beduinen auf mich zu ziehen. Ich steuere also direkt zwei Männer an und frage sie, ob ich neben ihren Zelten campen kann. Sofort laden sie mich zu sich ein und reichen mir Tee.Was folgt, ist allerdings eine nicht durchweg positive Erfahrung. Sie sind zwar sehr freundlich, unglaublich interessiert und bieten mir selbstverständlich einen warmen Schlafplatz an. Während des Abends werde ich allerdings allen möglichen Verwandten und Freunden vorgestellt. Bis tief in die Nacht muss ich mich ihren neugierigen Fragen stellen, die immer unangenehmer werden. Sie befragen mich zum Islam, zu Drogen, Hitler und vielen weiteren heiklen Themen. Besonders alles, was mit Geld zu tun hat, scheint sie brennend zu interessieren.
Der äußerst positiven Beurteilung Oswaldos kann ich also nicht zustimmen. Aber vielleicht gibt es auch ganz unterschiedliche Gruppen, die man hier allgemein als Beduinen bezeichnet? Ich gerate in jedem Fall an eine Gruppe, die – so scheint es mir – schon recht große Schritte in Richtung Moderne und Kommerz gegangen sind. Den Tag verbringen sie neben ihren Herden in Zelten und kleinen Häusern, abends fahren sie in großen Pickups zu ihren Häusern im nahegelegenen Dorf.
Hin- und hergerissen
Ich glaube, Gott hat mich mit viel Geduld beschenkt. Manchmal bin ich selber überrascht, wie viele Stunden ich das Sitzen in von Rauch getränkten Räumen, das ununterbrochene Befragen und im Mittelpunkt Stehen und das mühsame Kommunizieren per Google Translator ertrage. Nach der Zeit bei den Beduinen ist meine Geduldsspeicher allerdings leer, ich nehme mir vor, den nächsten Abend fern jeglicher Dörfer und Beduinenlager zu zelten. Genau zur rechten Zeit komme ich an drei alten, verlassenen Häusern vorbei. In einem schlage ich windgeschützt mein Zelt auf.
So habe ich mal wieder Zeit zu reflektieren: Innerlich bin ich hin- und hergerissen. Ich erlebe viel Freundlichkeit, aber auch viele unangenehme Situationen. Besonders die Begegnungen mit den Steine werfenden Kindern hat meine Moral drastisch nach unten gezogen. Zeitweise saß ich auf meinem Fahrrad und habe mir nur gewünscht, schon in Amman zu sein. Man könnte an dieser Stelle fragen, wieso ich mich nicht gleich nach der ersten negativen Erfahrung in einen Bus gesetzt habe und so nach Amman gefahren bin? Ich bin froh, dass meine Motivation immer noch groß genug war, um weiter zu radeln. Ich wusste bereits vor der Reise, dass solche und noch schwerere Phasen auf mich warten würden und dass ich ihnen nicht ausweichen möchte.
Das Durchschreiten von diesen Tiefs lässt mich selbst die geringste Wertschätzung so viel intensiver erfahren. Ich erinnere mich an den Moment, als ich der Bedienung im Schnellimbiss Trinkgeld geben wollte; nachdem er dies vehement abgewehrt hat und ich mich zu meinem Fahrrad begeben habe, ist mir ein anderer Gast hinterher gelaufen und hat mir einen Dinar zugesteckt – „für meine Reise“. Oder der kurze Moment, als ich neben einer Tankstelle ein Toilettenhaus betreten habe und mir der Mann, der die Toiletten putzt, mit einem einzigen Blick alle Liebenswürdigkeit entegegen gebracht hat, die sein Herz zu geben vermag.
„Wie gefällt dir Jordanien?“
Diese Frage wird mir hier oft gestellt. Freundlich habe ich immer mit „sehr gut“ geantwortet und dabei auch nicht gelogen; ich liebe die Wüste, die Berge und die Freundlichkeit der Menschen.
9 Kommentare
Es erdet so eine Bericht zu lesen! Wie nichtig kommen einem eigene Probleme vor und wie sehr komme ich auch selbst dazu zu reflektieren… es ist doch wahrlich ein Segen wie sehr du bewahrt wirst und wieviel Zugang du dadurch, zu anderen Menschen bekommst… Gott schütze dich weiterhin! Liebe Grüße von deinem Bruder
Absolut! Für den Zugang zu anderen Menschen bin ich besonders dankbar.
Halte in der Wüste gut die Augen auf, vielleicht begegnet dir ja der kleine Prinz?
Cool zu hören wie Gott dich behütet!
Man sieht ja nur mit dem Herzen gut, werde also mein Herz offenhalten. Danke in jedem Fall für den Tipp!
1- du scheinst das Buch gelesen zu haben. Für die 1+ bitte korrekt zittieren. D.h. Zeilen- und Seitenangabe ?
S. 42, Zeile 195
Du Streber.
[…] Reisetagebuch […]
[…] Menschen: Sie sind sehr hilfsbereit, freundlich und herzlich, dabei aber nicht zu aufdringlich. In Jordanien waren mir die Menschen (oder besser gesagt die Männer) oft zu direkt und laut, ganz zu schweigen […]