Ziel

by Benni

Wenn ich Leuten in letzter Zeit erzählt habe, dass ich auf Reise mit dem Fahrrad gehe, dann haben sie mich immer zwei Dinge gefragt: Wo willst du hinfahren? Und wie lange willst du unterwegs sein? Des Öfteren kamen mir dann die Zeilen in den Sinn, die Bilbo sang, als er das Auenland verließ:

Die Straße gleitet fort und fort,
weg von der Tür, wo sie begann,
weit über Land, von Ort zu Ort,
ich folge ihr, so gut ich kann,
ihr lauf’ ich raschen Fußes nach,
bis sie sich groß und breit verflicht’
mit Weg und Wagnis tausendfach.
Und wohin dann? Ich weiß es nicht.

J.R.R. Tolkien, Der Herr der Ringe

Mir gefällt die Einstellung, mit der Bilbo auf seine Reise gegangen ist:

  • Er setzt mutig den ersten Schritt auf die Straße vor seinem Haus. Diese Straße hat er bestimmt tausende Male genutzt, um seinen täglichen Geschäften nachzugehen. Jetzt vertraut er sich ihr an, um ihr in die Ferne zu folgen.
  • Mit dem ersten Schritt nimmt die Reise ganz von alleine ihren Lauf; die Straßen gleiten fort und fort, er muss ihnen nur folgen.
  • Wohin dann? Ich weiß es nicht. Wie sollte man auch wissen, wo die Reise genau hingeht, welchen Personen man begegnet? Ist man bereit, sich durch die Windungen der Straßen leiten zu lassen, so ist jede Reise ein Weg und Wagnis tausendfach.

Mein Plan: Kein Plan

Mein Leben hatte die letzten Jahre stets eine klare Struktur, meine Ziele hatte ich „smart“ definiert, der Terminkalender war immer gut gefüllt. Für einen Blick zur Seite oder sogar für einen spontanen Zwischenstopp war dabei nie Zeit. Wenn ich mir jetzt eine feste Route oder einen klaren Zeitplan vornehmen würde, ich würde ihn vermutlich erneut in die Tat umsetzen – und davor will ich mich selbst beschützen.

Meine Antwort auf die Frage nach dem Wohin und Wielange war also immer: „Ich weiß nicht, mein Plan ist es, keinen Plan zu haben.“ Ich habe also kein geographisches Ziel. Ich peile keinen festen Ort, keine schöne Stadt oder gar einen Zielflughafen an, von dem aus ich die Rückreise antrete. Auch ein fester Zeitplan existiert nicht. Ein paar Monate werden es wohl schon sein, aber ob daraus auch Jahre werden, will ich ebenfalls offen lassen.

Mögliche Ziele

So ganz ohne Ziele soll meine Reise aber trotzdem nicht auskommen. Neben einem geographischen und zeitlichen Ziel kann man sich ja ganz viele andere Ziele setzen. Wenn ich so durch diverse Reiseblogs scrolle, dann begegnen mir am häufigsten folgende:

  • Einige scheinen sich teure Ausrüstung zu kaufen, um diese dann durch die Welt zu fahren, zu testen und Bewertungen dazu zu veröffentlichen.
  • Andere nutzen ihre Reise, um ihren Blog zu füllen, schöne Fotos zu schießen und Aufmerksamkeit zu erlangen.
  • Und wieder andere versuchen sich selbst zu „verwirklichen“, zu „finden“, ein „Abenteuer zu erleben“ oder einfach das „Leben zu genießen“.

Ich kann alle diese Ziele bei mir selbst wiederfinden: Meine Ausrüstung ist viel zu oft mehr als nur Mittel zum Zweck; mein Herz macht Luftsprünge, wenn meine Beiträge geteilt werden; und der Gedanke, durch das Berichten von Abenteuern Anerkennung zu erlangen, ist mir ebenfalls nicht fremd. Immer wieder versuche ich mich jedoch daran zu erinnern, dass all diese Ziele nicht im Zentrum meiner Reise stehen sollten. Ich glaube, dass ich alles in meinem Leben als Geschenk erhalten habe, deshalb will ich es nicht für mich selbst leben.

Mein Ziel

Was ist aber dann mein Ziel? Zuallererst möchte ich Menschen begegnen. Und das Reisen mit dem Fahrrad scheint mir dazu die ideale Weise. Ich hoffe, dass ich tiefe Einblicke in Gesellschaften, Gemeinschaften, soziale Projekte, Familien und einzelne Biographien gewinnen kann. Ich möchte zuhören, hinsehen und lernen. Und wo es möglich ist möchte ich eigenes teilen, geben und helfen. Ich werde diesem Ziel bestimmt nicht immer gerecht werden, doch als kleine Erinnerung an mich selbst sei er hier festgehalten.

Übrigens: Bilbo ist mit den zitierten Zeilen auf den Lippen losgelaufen, nach kurzer Zeit aber an einem ihm altbekannten und geliebten Ort angekommen, wo er für die nächste Zeit blieb. Er reiste ins Ungewisse los, landete jedoch bald im Altbekannten. Dieses war ihm durch die Erlebnisse unterwegs vermutlich noch wertgeschätzter geworden. Ich bin mit der Option losgefahren, die Welt zu umqueren. Doch wer weiß, wo mich die Reise ins Ungewisse hinführt – vielleicht ja nach kurzer Zeit auch wieder ins vertraute zu Hause.