Seitdem ich über diese Reise nachdenke, frage ich mich, wie ich es wohl nach Israel schaffe, ohne zu fliegen. Die letzten Monate habe ich immer wieder stundenlang im Internet recherchiert und nach Möglichkeiten gesucht. Konkretes konnte ich selbst in der Türkei nicht herausfinden. So entschied ich mich, es einfach mit Zypern zu versuchen. Ich hoffte, dort irgendetwas Schiffbares zu finden, das mich und mein Fahrrad nach Ägypten oder Israel mitnehmen würde. Wie schon Lesbos sollte mir die Insel als Sprungbrett in’s nächste Land dienen.
Eine Fähre in’s besetzte Gebiet
Nach den anstrengenden, aber schönen Tagen entlang der türkischen Südküste verlasse ich das Land und nehme die Nachtfähre von Silifke (Taşucu). So langsam gewöhne ich mich an diese Fährfahrten bei Nacht. Das besonders Schöne diesmal: Die Sitze haben keine Lehnen, ich muss also nicht auf dem Boden schlafen, sondern genieße eine Art Bett und machen mich auf den Sitzen lang.
Ausgeschlafen betrete ich am nächsten Morgen Nordzypern. Am Grenzschalter hoffe ich, ohne Stempel im Pass auszukommen, aber da lässt sich leider nichts machen: Sogar in knalligem Rot haut der unkooperative Beamte mir eine Aufenthaltsgenehmigung für 90 Tage in den Reisepass. Wieso möchte ich das vermeiden? Nordzypern ist seit 1974 von der Türkei besetzt und wird nur von dieser als Staat anerkannt. Dies hat zur Folge, dass Südzypern, also die Republik Zypern, die Einreise über alle Häfen des Nordens als illegal betrachtet und sich vorbehält, die Ausreise über die eigenen Häfen und Flughäfen zu verweigern. Aber was sollte ich schon machen? Von der Türkei aus gelangt man nur nach Nordzypern, und weiter nach Israel komme ich wenn dann nur von der Republik aus. Mir bleibt also keine andere Wahl, als es mit dem roten Stempel im Pass zu versuchen.
Nordzypern unterscheidet sich nicht groß von der Türkei. Sogar Bilder Atatürks, des Gründers der türkischen Republik, sieht man hier wie am Festland an jeder Ecke. Wüsste man nichts von der politischen Situation, man würde Nordzypern auf den ersten Blick für einen ganz normalen Staat halten (mit Ausnahme vielleicht von der starken Militärpräsenz). Zeit für einen zweiten Blick nehme ich mir allerdings nicht, ich eile direkt zum Grenzübergang in die Republik.
Übertritt in gewohnte Gefilde
Dort ist einiges los: Viele Zyperntouristen nutzen den Übergang, um für ein paar Stunden den Norden zu betreten (und billig einzukaufen). Zwischen dieser shoppenden Masse erhöht sich mein Pulsschlag: Wird der Grenzbeamte Anstalten machen, wird er mich einreisen lassen? Erfreulicherweise schert er sich gar nicht um die Stempel in meinem Pass, ich komme ohne Probleme in den Süden.
Ich muss zugeben, dass ich die letzten Tage so fokussiert auf die Einreise nach Israel war, dass ich mich über Zypern gar nicht informiert hatte. In meinen Gedanken spielte es nur als Zwischenstation eine Rolle, nicht aber als Land, das ich mit dem Fahrrad bereisen würde. Die erste Überraschung erwartete mich folglich schon, als ich die Fähre verließ: Hier herrscht Linksverkehr! Mit dem Übertritt in die Republik ging’s dann weiter: Hier kann man ja mit Euro zahlen! Na klar, Zypern gehört ja zur EU. Auf einmal war ich also wieder in der gerade noch so fern wirkenden EU.
Es ist ja fast ein Naturgesetz, dass man sich sehr schnell nach dem sehnt, was man gerade nicht um sich hat. In der Türkei begann ich folglich, saubere Straßen, große Supermärkte – also einfach mitteleuropäischen Luxus zu vermissen. Jetzt, in Zypern, bin ich auf einmal wieder davon umgeben: Die Hauptstadt Nikosia unterscheidet sich in diesen äußerichen Dingen nicht groß von jeder x-beliebigen anderen, europäischen Großstadt. Umgeben von riesigen Einkaufszentren, hippen Cafés und dem Feierabendverkehr fühle ich mich sehr bald unwohl. Schnell werde ich also von der sich immer wieder neu einschleichenden Illusion befreit, dass in der fernen Heimat alles besser ist.
Enttäuschung im Regen
Noch in Nikosia steuere ich das Büro von Salamis Cruise Lines an. Dieses Unternehmen ist einer jener, die mich vielleicht nach Israel bringen können. Seit Monaten hatte ich auf diesen Moment voraus geblickt: Vor Ort nachfragen zu können. Und wenn sie selbst keine Fährfahrt anbieten, wissen sie vielleicht von jemandem… Ich stelle mich in jedem Fall darauf ein, geduldig nach allen Möglichkeiten zu fragen.
Am Schalter sitzt eine Frau, die sehr gut Englisch spricht. Ich beginne also meinen lang ersehnten Dialog:
„I’m looking for a ferry to Israel.“ („Ich suche nach einer Fähre nach Israel.“)
„We don’t do any passenger service from Cyprus.“ („Wir bieten keinen Passagierservice von Zypern aus an.“)
„No chance at all?“ („Gar keine Chance?“)
„No.“
„Do you know of any other possibility to get to Israel without taking a flight?“ („Wissen sie von irgendeiner Möglichkeit, nach Israel zu gelangen, ohne den Flieger zu nehmen?“)
„We don’t do any passenger service from Cyprus.“ („Wir bieten keinen Passagierservice von Zypern aus an.“)
Es folgen noch etwa fünfmal die letzten beiden Sätze in ähnlichem Wortlaut (ich trage mein Anliegen immer emotionaler vor, sie antwortet immer mehr wie ein Roboter), bevor ich enttäuscht das Büro verlasse. Keine Chance mit Salamis also.
Noch vor dem Büro tätige ich einige Anrufe. Die Frachtschiff-Gesellschaft Grimaldi zum Beispiel hat zwar kein Büro auf Zypern, aber fährt regelmäßig von hier nach Israel. Aber auch von ihnen erhalte ich eine Absage. Über private Anfragen an Segler ergibt sich ebenfalls nichts (so gut wie keiner segelt zu dieser Jahreszeit über das Mittelmeer). Innerhalb kurzer Zeit löst sich also jegliche Hoffnung in Luft auf.
Wie auf Bestellung beginnt es heftig zu regnen. Da stehe ich also als einsamer Radreisender, als gerade „illegal“ Eingereister und von dem Büro meiner Hoffnung kalt Abservierter und lasse den Regen mein Klagelied singen.
Ablenkung im Kloster
Aber was hilft schon langes Lamentieren? Noch im strömenden Regen breche ich zum Flughafen nach Larnaca auf und löse ein Flugticket für übermorgen. Sofort gehe ich gedanklich die nächsten Schritte durch: Ich werde einen Fahrradkarton in einem Geschäft in der Stadt auftreiben müssen, mein Rad auseinander bauen und es zusammen mit dem Gepäck dort rein pferchen müssen; dann alles zum Flughafen transportieren; dann es durch die Gepäckkontrolle schleusen; dann mich durch die Sicherheitskontrolle schleusen; dann die israelische Sicherheitsbefragung überstehen; dann hoffen, dass das Fahrrad unbeschadet ankommt… so könnte ich mir ununterbrochen über alles nun Bevorstehende den Kopf zerbrechen – oder einfach noch etwas Radfahren.
Im Internet habe ich von einem alten, orthodoxen Kloster auf dem Berg Stavrovouni gelesen, was sich mit der Berg des Kreuzes übersetzen lässt. In dem Kloster wird nämlich ein Stück des (angeblichen) Wahren Kreuzes Christi aufbewahrt. Seit dem vierten Jahrhundert sammeln sich Mönche um dieses Relikt und leben ein Mönchsleben nach einer sehr strengen Regel. So dürfen etwa bis heute keine Frauen das Kloster betreten, jegliches Fotografieren ist verboten. Das scheint mir ein geeigneter Ort für einen Tagesausflug zu sein, um auf andere Gedanken zu kommen.
Ich strample mich also den Berg hinauf und warte an der Seite einiger anderer Männer unterschiedlichster Herkunft auf den Einlass. Nach einiger Zeit des Wartens geben wir jegliche elektronischen Geräte ab und betreten das Klostergelände. In der Kirche gibt es viele Fresken und Ikonen zu betrachten. Während ich genau das auch versuche – also das Betrachten – stürmen andere an mir vorbei und küssen jede einzelne Ikone. Selbst so manche Hand eines Mönches bleibt von ihren Küssen nicht verschont.
Auf mich als durch den Protestantismus geprägten Christen wirkt dieses Verhalten doch etwas befremdlich. Auch die Ikonen und Fresken bestaune ich zwar, frage mich aber, ob bei diesem ganzen Fokus auf das Äußere, Sinnliche und Sichtbare der eigentliche Kern des christlichen Glaubens verschüttet geht. Aber auch hier versuche ich einem schnellen Urteil zu widerstehen; wie wenig kenne ich die orthodoxe Kirche, wie wenig weiß ich von dem Glauben ihrer Anhänger! Sehr gerne würde ich diese Konfession näher kennenlernen. Vielleicht werde ich in nächster Zeit noch weitere Gelegenheiten dazu haben. Der Besuch des Klosters ist in jedem Fall eine eindrucksvolle Begegnung mit ihr.
Auf Enttäuschung folgt Dankbarkeit
Mit dem verpackten Rad (23 Kilo Maximalgewicht habe ich weit überschritten) und dem roten Stempel im Pass geht’s am nächsten Tag zum Flughafen. Doch wo zu Beginn Frustration und Unsicherheit herrschte, da stellt sich letztendlich Dankbarkeit ein: Der Angestellte von Cyprus Airways zeigt sich ganz interessiert an meiner Reise und stört sich nicht an dem Übergewicht; der Grenzbeamte wiederum blättert gezielt an den Stempeln im Pass vorbei; die Sicherheitsbefragung am Flughafen fällt (aus mir unerklärlichen Gründen) diesmal aus; in Tel Aviv kann ich mein Fahrrad unbeschädigt entgegen nehmen und wieder aufbauen; und zu guter Letzt empfangen mich dort Lewin und Nathanael. Lewin ist ein alter Bekannter und folgt meinen Reiseberichten. Vor einigen Tagen hat er sich gemeldet, er würde zusammen mit Nathanael eine Woche Urlaub in Israel machen – genau zu der Zeit, in der ich dort ebenfalls ankomme. Sie holen mich am Flughafen ab, zusammen verbringen wir jetzt Zeit in Tel Aviv.
Mal wieder wird mir bewusst, dass in jeder Enttäuschung ein Segen liegt. Ich bin dankbar, nun in Israel zu sein. In der Region möchte ich jetzt „überwintern“, also mindestens bis März bleiben.
3 Kommentare
[…] immer es genau ist, zu diesen Begriffen fallen mir direkt viel mehr Erlebnisse ein. So etwa diese Ungewissheit auf Zypern, ob ich es nach Israel schaffen würde; oder diese Stunden, in denen ich meine Sachen in einen […]
[…] Dies ist also meine Erfahrung im November des Jahres 2018. Mir scheint es nicht ausgeschlossen, trotzdem mit einem Schiff von Zypern nach Israel zu gelangen – besonders im Sommer. Man sollte sich einfach darauf einstellen, einige Tage auf der Insel zu verbringen, vor Ort alle möglichen Büros und Häfen zu besuchen und geduldig nach Möglichkeiten zu fragen. Ganz nebenbei lernt man dabei die Insel Zypern näher kennen, die übrigens wunderschön ist, wie ich selbst feststellen konnte (siehe hier). […]
Hallo Iraelbiker, mit grosser Aufmersamkeit, stöbere in euren Blogs nach den Möglichkeiten mit den Bike nach Israel und zurück zu gelangen, ohne ein Flugzeug benutzen zu müssen. Da die Artikel aus 2018 stammen, will ich kurz fragen was der Stand heute ist? Insbesondere auch betreffend Covid19. Meine Absicht ist anfangs Februar 2022 von Schaffhausens in die östliche Südtürkei aufzubrechen, um von dort mit einem Schiff nach Israel zu gelangen. Wer hat aktuelle Erfahrung dazu und könnte mir helfen?
Andres Stapfer
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