Lesbos als Zwischenstation
Von Thessaloniki nahm ich die Nachtfähre nach Lesbos. Ich wollte über diese griechische Insel in die Türkei einreisen, um die Metropole Instanbul zu umgehen. Eigentlich soll Istanbul ja eine der interessantesten Großstädte der Welt sein, aber als Radreisender bedeutet sie einfach nur Stress. Ich habe schon von einigen erfahrenen Radlern gehört, dass man sich stundenlang entlang einer vielbefahrenen Straße in das Stadtzentrum kämpfen muss. Dem wollte ich aus dem Weg gehen, von Lesbos an die Westküste der Türkei überzusetzen, schien mir die viel entspanntere Variante.
Die Insel Lesbos sollte mir also als Zwischenstation gen Osten und Asien dienen. Für viele tausend Syrer, Afghanen und Flüchtlinge anderer Nationen ist es jedoch genau umgekehrt: Sie versuchen mit einfachen Booten die Insel von der Türkei aus zu erreichen – sie ist nur etwa fünf Kilometer vom Festland entfernt – und so in die EU einzureisen. Besonders im Jahr 2015 versuchten dies mehrere hundert Personen pro Tag. Viele ertranken bei dem Versuch, da die Motoren ihrer Boote versagten und es außer einigen griechischen Fischern keine Hilfe für die Flüchtlinge gab.
Eine Krise, die noch lange nicht vorbei ist
Wer die Nachrichten heute verfolgt, hört in der Regel nichts mehr von Flüchtlingen auf Lesbos oder anderen griechischen Inseln. Nach einem Abkommen zwischen der EU und der Türkei wählen tatsächlich deutlich weniger diese Route, doch sie wird immer noch genutzt. Zudem harren tausende Personen auf den Inseln aus und warten auf die Annahme ihres Asylantrages. Alleine auf Lesbos sind es im Moment mindestens 7000. Viele der Hilfsorganisationen, die im Jahr 2015 sehr schnell vor Ort waren und Hilfe brachten, haben sich mittlerweile wieder zurückgezogen. So sind die Flüchtlinge auf den griechischen Inseln zu einem großen Teil sich selbst überlassen. Sie können weder vor, noch zurück und kämpfen um’s pure Überleben – besonders jetzt, wo es kalt wird in der Nacht.
Auf Lesbos ist es das Camp Moria, in dem alle Personen untergebracht sind. Ursprünglich war es für 2.000 ausgelegt, aber diese Zahl wurde schnell gesprengt. Ich hatte schon einiges von dem Camp gehört; auch einige Freiwillige, die ich in Thessaloniki kennenlernen konnte, hatte sich zeitweise in diesem Camp engagiert. Jetzt, wo ich den Tag über Zeit hatte, bevor die Fähre an’s türkische Festland abfuhr, wollte ich zumindest einen kleinen Einblick in das Camp und die Situation auf der Insel gewinnen.
Das Camp Moria
Am frühen Morgen kam die Fähre in Mytilene, der größten Stadt auf Lesbos, an. Ich machte mich sofort auf den Weg und radelte entlang der wunderschönen Küste in Richtung Moria. Das kleine Dorf ist namensgebend für das Camp, das nur etwa einen Kilometer entfernt liegt und einfach an einem Hang, der mit Olivenbäumen bepflanzt ist, errichtet wurde. Je näher ich dem Camp kam, desto mehr Menschen begegnete ich auf der Straße. Sie waren auf dem Weg an’s Meer, in die Stadt oder spazierten einfach nur die Straße entlang. Ein paar Kinder waren mit Tüten ausgestattet und sammelten Müll vom Straßenrand. Nur wenige beachteten mich oder riefen mir gar etwas zu. Ich war froh darüber, ich wollte kein großes Aufsehen erregen.
Eine Person sprach mich dann aber doch so direkt an, dass ich stehen blieb und das Gespräch begann. Mahmut aus Afghanistan muss irgendwie geahnt haben, dass ich Deutsch spreche. Er freute sich sehr, sich mit mir unterhalten zu können und begann sofort, zu erzählen: Er habe jahrelang mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern in der Schweiz gelebt, nach der Scheidung sei er aber freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt. Nachdem in seinem Dorf allerdings eine Bombe explodierte sei und er sich nicht mehr sicher gefühlt habe, habe er sich erneut auf den Weg Richtung Europa gemacht. Nun warte er darauf, dass die schweizer Behörden sich seines Falles annehmen. Seit vier Monaten sei er nun hier auf Lesbos.
Mahmut fragt mich, wie ich seine Chancen auf Asyl einschätzen würde. Ich kann es schwer beurteilen; dass er freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt ist, macht es natürlich komplizierter. Aber immerhin spricht er gut Deutsch und hat Familie in der Schweiz. Ich versuche ihm Mut zu machen. Er bedankt sich und wünscht mir eine schöne Reise.
Ein unwirklicher Ort
Mittags komme ich wieder nach Mytilene. Mittlerweile ist die Stadt zum Leben erwacht. Ich kann mit einigen Einheimischen sprechen. Sie erzählen mir, dass der Tourismus, die Haupt-Einnahmequelle der Insel, komplett eingebrochen ist. Aus Deutschland etwa seien in den letzen beiden Jahren nur nur 10 Prozent der üblichen Zahl an Besuchern gekommen. Ich merke den Leuten an, dass sie hin und her gerissen sind. Zum einen wollen sie sich hilfsbereit zeigen und nicht zu negativ über die Flüchtlinge sprechen, zum anderen sehen sie sich aber in ihrer Existenz bedroht, haben ihre Arbeit verloren oder verdienen einfach nicht mehr genug Geld.
Die Insel sei nicht mehr wiederzuerkennen, so sagt mir etwa ein Bäcker, der sein Geschäft auf der Hauptstraße Mytilenes hat. Ich muss nur aus dem Fenster seiner Bäckerei schauen, um zu verstehen, was er meint. Da, wo wahrscheinlich für gewöhnlich viele Touristen zu sehen sind, sehe ich jetzt Afghanen, Pakistaner und Syrer, die kein Geld haben, um ihm sein Brot abzukaufen. Ich weiß es nicht genau, aber ich vermute, dass sie die Auflage haben, in dem Camp oder zumindest in dessen Nähe zu übernachten, tagsüber sich aber frei auf der Insel aufhalten dürfen.
Am Nachmittag kehre ich an den Hafen zurück und warte auf die Fähre. Nachdem ich mein Ticket vorzeige, darf ich hinter den Zaun, der den Zugang zu den Fähren vom restlichen Hafen abtrennt. Vor dem Zaun halten sich viele Flüchtlinge auf. Sie angeln, baden im Meer, einige machen mit ihren Smartphones Fotos von der großen Fähre, die am Abend nach Athen ablegt. Für die meisten werden wohl noch Monate vergehen, bis sie selbst eine solche Fähre betreten dürfen.
Ein letzter Blick auf Europa
Als die Sonne untergeht, legt die Fähre nach Ayvalik ab. Ich blicke noch einmal auf die wunderschöne Insel, die solch ein Trauma erlebt. Es ist ein komisches Gefühl, auf der sicheren Fähre nach Asien unterwegs zu sein, während in umgekehrte Richtung viele ihr Leben verloren haben.
Mit der Fährfahrt verlasse ich den europäischen Kontinent. Ich konnte ihn die letzten eineinhalb Monate von einer mir ganz neuen Seite kennenlernen. Zum Schluss habe ich eine seiner offenen Wunden von nahem gesehen. Was wird sich geändert haben, wenn ich Europa wieder betrete?